»Es gibt kein heiliges oder unheiliges Leid«
Gespräch mit Raji Sourani. Über das Elend der Palästinenser in Gaza
und die notwendige Verteidigung des Völkerrechts
junge Welt, 07.10.2006 / Wochenendbeilage / Seite 1 (Beilage)
Raji Sourani ist Gazas prominentester und wichtigster Anwalt im
Menschenrechtsbereich. Er war Direktor des »Gaza Centre of Human
Rights« und ist nun seit einigen Jahren Direktor des von ihm
gegründeten »Palestinian Centre for Human Rights« (PCHR –
Palästinensisches Zentrum für Menschenrechte). 2002 wurde er mit dem
Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte ausgezeichnet.
Nach
den israelischen Bombenangriffen sind 60 Prozent der Bevölkerung in
Gaza ohne Strom und auch Wasser gibt es nur an Ausgabestellen geholt
werden
Foto: AP
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Bei seinem Besuch im Gazastreifen sagte John Dugard,
UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte kürzlich, Gaza sei ein
Gefängnis, dessen Schlüssel Israel weggeworfen habe. Was passiert
derzeit in Gaza?
365 Quadratkilometer, der komplette
Gazastreifen, sind hermetisch abgeriegelt und von der Außenwelt
isoliert. Wir haben keinen Zugang zur Westbank mehr, und auch der
interne Grenzübergang nach Israel ist geschlossen, was bedeutet, daß
wir nicht einmal so dringend benötigte und überlebenswichtige Dinge wie
Medikamente oder Lebensmittel einführen können. Auch den Zugang zur
Seeseite haben uns die Israelis genommen. Die Fischer können nicht mehr
aufs Meer hinaus – die Fischindustrie ist tot.
Der
Rafah-Übergang, unsere einzige Verbindung zur Außenwelt, ist vor vier
Monaten geschlossen worden und wurde seither nur an zwei oder drei
Tagen geöffnet. Israel schickt seine Kampfjets, um unsere Wohnhäuser zu
zerstören und islamische Widerstandskämpfer auszulöschen. Israel hat
unser Außenministerium bombardiert, das Ministerium für Handel und
Industrie, das Büro des Premierministers und unzählige zivile Ziele,
Wohnhäuser von palästinensischen Familien wie das von Abu Salmeya oder
das Haus der Hajad-Familie.
Israelische Apache-Helikopter und
Dronen sind die selbsternannten Herrscher über Gazas Nachthimmel.
Nahezu täglich schlagen 300 bis 400 israelische Granaten im Umkreis von
nur wenigen hundert Metern zu den Wohngebieten ein. Die Menschen leben
in ständiger, unbeschreiblicher Angst.
Besonders in den
südlichen und östlichen Gebieten fällt die israelische Armee
willkürlich und rund um die Uhr ein. Israelische Soldaten überfallen
die Lager, sie zerstören mutwillig palästinensische Häuser, Gärten;
entwurzeln Tausende Olivenbäume, machen ganze Felder und Wege platt,
zerstören blindwütig Telefonleitungen, Sanitär- und Abwässerkanäle.
Israel hat die Hauptzugangswege und -straßen und die einzigen sechs
Brücken in Gaza in Schutt und Asche bombardiert.
Im gesamten
Gazastreifen setzt die israelische Armee Schallbomben ein. Tag und
Nacht terrorisieren sie damit 1,6 Millionen Frauen, Männer und Kinder.
Am
28. Juni haben israelische F-16-Bomber das einzige Elektrizitätswerk in
Gaza angegriffen. Seither sind 60 Prozent der Bevölkerung ohne Strom
und auch Wasser gibt es nur noch an zwei oder drei Stunden pro Tag.
Besonders für die Krankenhäuser ist der Stromausfall katastrophal.
Die
Zerstörung des Elektrizitätswerks richtet sich gegen das ganze
palästinensische Volk. Sie war illegal und ist nach dem Völkerrecht als
Kriegverbrechen anzusehen. Es gab keinen militärischen Grund für den
Angriff. Das Elektrizitätswerk ist ein rein ziviles Objekt.
Wie wird im Ausland – insbesondere auch in den
internationalen Medien – auf die prekäre Notlage der palästinensischen
Bevölkerung reagiert? Erhalten Sie Zuspruch und Beistand?
Niemand scheint wirklich interessiert daran, was in Gaza tatsächlich
passiert. Das ist unser Eindruck. Erstmals in unserer Geschichte müssen
wir miterleben, daß die internationalen Medien kaum über die
verheerende Lage in Gaza berichten. Und wenn sie es tun, dann nur
unzureichend oder sogar falsch. 85 Prozent der Menschen in Gaza sind
entweder arbeitslos oder erhalten keinen Lohn. 90 Prozent der
Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. In Gaza zu leben und zu
überleben, ist in diesen Wochen und Monaten sehr schwierig und eine
unglaublich triste Angelegenheit. Gaza ist trostlos, schwarz und
blutig. Aber die große Not der Menschen, und was es bedeutet, Tag für
Tag unter diesen Umständen zu leben, wird nicht realisiert, weil die
Medien – bis auf wenige Ausnahmen – nicht darüber berichten. Wir
beobachten dies mit großer Betrübnis und Fassungslosigkeit.
Raji Sourani
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Seit wann hat sich die Situation so dermaßen verschlechtert?
Steht dies in Verbindung zur Entführung des israelischen Soldaten Gilad
Shalit am 25. Juni?
Es ist seltsam, daß alle Welt die Entführung von Gilad Shalit erwähnt,
aber niemand spricht etwa über die Familie von Dr. Nabil Abu Salmeya,
bei der neun von elf Familienmitgliedern am 12. Juli bei Tagesanbruch
von israelischen F-16-Kampfjets attackiert und getötet wurden. Und wie
sie wurden Hunderte unschuldiger, wehrloser Menschen verletzt,
verstümmelt und getötet, und ihre Häuser zerstört. Niemand findet die
Tatsache besorgniserregend, daß seit dem 25. Juni nahezu 300 Zivilisten
getötet wurden, 85 davon waren Kinder und 70 von ihnen waren Frauen.
Kaum jemand kümmert sich darum, wie sehr die palästinensische
Bevölkerung leidet und in der Not erstickt.
Es
gibt kein heiliges oder unheiliges Blut, und es gibt kein heiliges oder
unheiliges Leid. Es gibt nur menschliches Leid, und es gibt nur
ebenbürtiges menschliches Blut. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich
habe kein Mandat zur Verteidigung von irgendwelchen bewaffneten
Einzelkämpfern oder militanten Gruppen. Ich spreche hier einzig und
allein von der Zivilbevölkerung – von schutzlosen palästinensischen
Bürgern, die von Israel zum militärischen Ziel erklärt werden. Das ist
Staatsterrorismus, ausgeübt vom Staat Israel.
Nach den
Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und Artikel 1 der Vierten
Genfer Konvention haben sich die internationalen Gemeinschaft und die
Hohen Vertragsparteien verpflichtet, das Abkommen unter allen Umständen
zu respektieren und seine Einhaltung durchzusetzen, das heißt den
Schutz der besetzten Bevölkerung zu garantieren. Wir sprechen hier
nicht etwa von einem Privileg, in dessen Genuß das palästinensische
Volk unter israelischer Besatzung zu kommen hofft; nein, die
Weltgemeinschaft muß den Schutz der Zivilbevölkerung veranlassen und
sie vor den Gewalttätigkeiten, der Terrorisierung und den
Kollektivstrafen ihrer Besatzer bewahren. Die Menschen in den besetzten
Gebieten sind täglich Kriegsverbrechen ausgeliefert, und derzeit läßt
man sie sogar verelenden und hungern.
Dennoch scheint die internationale Gemeinschaft die Augen
davor zu verschließen. Warum ist die Welt so auffallend zögerlich, wenn
es darum geht, konkrete Maßnahmen einzuleiten und Standpunkt zu
beziehen?
Man hat das ganz deutlich nach dem 11.
September 2001 sehen können. Die ganze Welt hat Osama bin Laden gehaßt,
und dafür gab es einen guten Grund: Weil der Anschlag auf das World
Trade Center sich gegen ganz normale US-Bürger gerichtet hatte. Bin
Laden wollte das Gesetz des Dschungels gegen das humanitäre Völkerrecht
und die Rechtsstaatlichkeit eintauschen.
Heute
müssen wir feststellen, daß ausgerechnet Amerika selbst das Gesetz des
Dschungels befürwortet. Und mit dem Stopp der Hilfszahlungen im April
dieses Jahres hat sich dem auch Europa angeschlossen. Gemeinsam haben
sich die USA und Europa darauf eingeschworen, über die Verbrechen, die
Israel in den besetzten Gebieten an den palästinensischen Bürgern
ausübt, zu schweigen.
Die Menschen in den besetzten Gebieten
erwarten keine Wunder – aber sie erwarten, daß die international
gültigen Menschenrechte und die Vierte Genfer Konvention eingehalten
werden. Diese so essentiellen Rechtsvereinbarungen und humanitären
Bestimmungen kommen nicht etwa von den Palästinensern, sondern sie
resultieren aus den europäischen Erfahrungen in zwei Weltkriegen.
Damals haben sich Akademiker, Sozialisten und Diplomaten zusammengetan,
um Wege zu finden, wie so schlimme Greueltaten wie Kriegsverbrechen an
schutzlosen Zivilisten für die Zukunft verhindert beziehungsweise
geahndet werden können. Das humanitäre Völkerrecht enthält klare
Regeln, die in Zeiten eines bewaffneten Konflikts Personen schützen
sollen, die nicht oder nicht mehr an den Kampfhandlungen teilnehmen.
Nicht zu vergessen, hat auch der Holocaust an den europäischen Juden im
Zweiten Weltkrieg das Entstehen dieser Konventionen maßgeblich mit
beeinflußt.
Heute allerdings, da wir Palästinenser die
Weltgemeinschaft zur Einhaltung und Gewährleistung des humanitären
Völkerrechts und der Vierten Genfer Konvention in den besetzten
Gebieten auffordern, scheint es, als würden wir damit um etwas sehr
Spezielles, ja nahezu Absonderliches bitten. Dies ist zutiefst
demütigend und völlig inakzeptabel! Das humanitäre Völkerrecht ist
nicht für Intellektuelle oder Diplomaten gemacht; es ist nichts
Anrüchiges, Verbotenes oder Vages, das man etwa hinter verschlossenen
Türen diskutierten müßte – es wurde gezielt geschaffen, weil die Welt
es braucht und damit es eingehalten und angewandt wird.
In Fällen schwerer Verstöße gegen die internationalen
Rechtsabkommen können Staatsanwälte theoretisch auf das
Weltrechtsprinzip zurückgreifen, um ausländische Kriegsverbrecher vor
nationalen Gerichten zu belangen. Würden Sie für die Anwendung des
Weltrechtsprinzips auf israelische Politiker, Diplomaten und Vertreter
der Armee, die nachweisbar Kriegsverbrechen verübt haben, eintreten?
Ja, Aktivisten und Menschenrechtler haben bereits damit angefangen und
werden dies auch weiterhin fortsetzen.
Fünfzig
Jahre nach dem Holocaust haben die Juden nicht vergessen, wer diese
schlimmen Verbrechen verübt hat, und sie haben ihnen nicht verziehen.
Und selbstverständlich würde niemand anzweifeln, daß es ihr gutes Recht
ist, alle diejenigen zu verfolgen und zur Verantwortung zu bringen, die
am Holocaust beteiligt waren.
Gleichzeitig aber macht sich
Israel seit Jahrzehnten schlimmster Verbrechen gegen die
palästinensische Zivilbevölkerung schuldig, so daß auch wir
Palästinenser, Menschenrechtler und Aktivisten sagen: Wir werden nicht
vergessen und nicht vergeben, was Israel angerichtet hat, und wir
werden alles tun und alle verfügbaren Möglichkeiten nutzen – und
darunter fällt beispielsweise auch das Weltrechtsprinzip – um die
Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und damit Gerechtigkeit für
die Opfer zu schaffen. Nicht nur als Rechtsanwalt und Palästinenser ist
dies meine Pflicht gegenüber den palästinensischen Opfern, sondern auch
als Erdenbürger. Denn wenn die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, wie
es derzeit international beobachtet werden kann, willkürlich
unterlaufen werden, ohne daß die Täter, die Akteure, irgendwelche
Konsequenzen befürchten müßten, welchen Wert hätten sie letzten Endes
dann noch?
Nach dem Krieg gegen den Libanon und der Durchsetzung der
Resolution 1701 hat die italienische Regierung vorgeschlagen,
Friedenstruppen ebenfalls in den besetzten palästinensischen Gebieten
zu stationieren – zur Beobachtung und zum Schutz der Zivilbevölkerung
auf beiden Seiten. Würden Sie einen solchen Vorschlag unterstützen?
Wir rufen seit mehr als 20 Jahren nach internationalen Friedenstruppen
zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung vor israelischen
Kriegsverbrechen. Aber die Weltgemeinschaft scheint uns nicht hören zu
wollen. Auf zwei internationalen Konferenzen der Vertragspartner des
humanitären Völkerrechts und der Genfer Konventionen im Juli 1999 und
im Jahr 2002 nach der Intifada haben wir unser Gesuch um
UN-Friedensschutztruppen in den palästinensischen Gebieten eingebracht.
Leider wurde die erste Anhörung nach gerade einmal 15 Minuten auf den
Druck der USA hin unterbrochen und vertagt; auch die zweite Konferenz
wurde nach sechs Stunden vertagt.
Ich
stimme der italienischen Regierung voll und ganz zu und möchte an
dieser Stelle befürworten und bestätigen, daß das palästinensische Volk
zur Stunde mehr denn je zuvor des Schutzes der internationalen
Friedenstruppen bedarf, die im Einklang mit den Bestimmungen des
humanitären Völkerrechts und der Vierten Genfer Konventionen stehen.
Dieser Schutz durch die internationalen Friedenstruppen sollte umgehend
von den Vereinten Nationen gewährleistet werden.
Die Europäische Union hatte die Hoffnung geäußert, daß durch
die Formierung einer palästinensischen Einheitsregierung eventuell eine
Rückkehr zum Friedenprozeß möglich werden könnte. Glauben Sie, daß sich
die Situation durch eine Einheitsregierung entspannen würde?
Die Palästinenser haben es satt, immer wieder etwas beweisen und
beteuern zu müssen, damit man ihnen das in Aussicht stellt, was ihnen
ohnehin zusteht – nur um im Nachhinein doch wieder enttäuscht zu
werden. Der entscheidende Punkt ist nicht, ob wir eine neue
Einheitsregierung brauchen oder nicht. Darum geht es nicht. Es wird an
den Ursachen des Konflikts nichts ändern. Früher war es Yassir Arafat,
der dem Frieden, so sagte man uns, vermeintlich im Wege stand, jetzt
ist es plötzlich die Hamas. Man wird immer neue Gründe finden und neue
Anforderungen formulieren.
Die
Forderungen der palästinensischen Bevölkerung in diesem Konflikt sind
keine unrealistischen Luftschlösser. Im Gegenteil, es sind ganz
selbstverständliche und einfache Bedürfnisse, wie sie jede andere
Nation auf der Welt auch beansprucht. Wie alle anderen Nationen haben
die Palästinenser das Recht auf Selbstbestimmung und wollen es ausüben.
Sie wünschen sich einen eigenen Staat, mit Jerusalem als Hauptstadt.
Aber vor allem wollen sie zwei Dinge: das Ende der Besatzung und die
Gewährleistung des humanitären Völkerrechts. Das ist machbar, das ist
keine Hexerei.
Europa hat einen schwerwiegenden Fehler begangen,
indem es nach dem Wahlsieg der Hamas seine Hilfszahlungen an die
Palästinenser eingefroren hat. Auf diese Weise wird ein ganzes Volk
dafür bestraft, daß es in demokratischen und freien Wahlen eine
Regierung gewählt hat, die den USA, der EU und Israel nicht gefällt.
Ist das Demokratie? Dieses Verhalten richtet sich voll und ganz gegen
die Prinzipien von demokratischer Freiheit. Tatsächlich haben wir
Palästinenser die erste Demokratie in der arabischen Welt – und darüber
hinaus die weltweit erste Demokratie unter Besatzung! Doch anstatt dies
anzuerkennen und ohne Vorbedingungen den Dialog mit der neuen
Hamas-geführten Regierung zu suchen, wird ein ganzes Volk ausgehungert
und Israel freie Hand gegeben, den Würgegriff noch zu verstärken.
Die
USA und ihre Verbündeten bringen das Gesetz des Dschungels in den
Nahost-Konflikt hinein. Das sollte von niemandem, der an die Prinzipien
von Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit glaubt, hingenommen werden.
Das Gespräch führte Andrea Bistrich