Felicia Langer
Nicht in meinem Namen
KOMMENTAR - Die
Toten von Beit Hanoun
FREITAG, 17.11.2006
Original: http://www.freitag.de/2006/46/06460202.php
Der Gaza-Streifen war schon ein Gefängnis, in dem es kaum Luft zum
Atmen gab, als Israels Armee vor einem Jahr abzog. Jetzt aber
durchsieben große und kleine Stahlsplitter die Luft, brennt den
Menschen der Boden unter den Füßen, schreien die Verwundeten und
Verschütteten um Hilfe - und es gibt kein Entrinnen, schon gar nicht
aus Beit Hanoun, dieser Stadt der Überflüssigen und Verdammten, die es
am schwersten trifft.
Ausgerechnet in dem Moment, da eine Regierung der palästinensischen
Einheit zwischen Hamas und Fatah zum Greifen nah scheint, holt die
israelische Armee bei ihrer Operation Herbstwolken zu einem weiteren
Schlag aus und tötet in Beit Hanoun Frauen und Kinder. Sofort ist alles
wieder in Frage gestellt, und Premier Olmert kann sein bekanntes
Argument zücken, er finde auf palästinensischer Seite keinen
Gesprächspartner, der annehmbar wäre, denn mit der Hamas-Regierung
redet er nicht. Und das in einer Lage, in der nur noch Verhandlungen
helfen können, Menschenleben zu retten. Schon im Juni wäre eine
Annäherung zwischen Hamas und Fatah möglich gewesen, als das "Papier
der Gefangenen" zirkulierte. Dem war zu entnehmen, dass die wichtigsten
palästinensischen Organisationen gemeinsam für eine Zwei-Staaten-Lösung
plädieren und den Staat Israel damit de facto anerkennen. Auch die
Hamas fand sich dazu bereit - und wurde von Olmert eiskalt ignoriert.
Vermutlich, weil in jenem Papier vermerkt ist, eine Zweistaatenlösung
ist denkbar, aber nur wenn sich Israel auf die Grenzen zurückzieht, wie
sie vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 bestanden haben. Dies zu
formulieren, ist keine Provokation - es bedeutet lediglich, sich auf
das zu berufen, was seit fast 40 Jahren in der berühmten UN-Resolution
242 steht: Die besetzten Gebiete müssen unverzüglich geräumt werden.
Die Palästinenser wollen laut "Papier der Gefangenen" nicht mehr als 22
Prozent des historischen Palästina - ein kolossaler Kompromiss. Wo
sonst bei einem ähnlichen Konflikt in der Welt gibt es eine solche
Bereitschaft zum Verzicht? Billiger kann Israel gar nicht zu Frieden
und Sicherheit kommen. Warum greift Ehud Olmert dieses Zugeständnis -
vor allem der Hamas - dann nicht auf? Weshalb hat er nicht wenigstens
versucht, darüber zu verhandeln? Miteinander zu sprechen, ist doch um
so vieles besser, als aufeinander zu schießen. Stattdessen entscheidet
sich Olmert für das Unmögliche: den Status quo. Die Palästinenser
sollen bestenfalls auf ein paar Kantone hoffen, um daraus eines Tages
ihren Staat zu zimmern. Schon jetzt dürfen sie sich ein Bild davon
machen, wie es ihnen dann ergeht. Denn was mit dem Gaza-Streifen
geschieht, lässt sich als Prophezeiung oder gar Drohung deuten. Die
Botschaft lautet, seid nicht so versessen auf euren Staat. Wir Israelis
können in der Westbank genauso verfahren wie vor euer aller Augen mit
dem Gaza-Streifen! Was wollt ihr gewinnen mit eurem Staat?
Inzwischen hat die US-Regierung den durch die israelische Armee
verschuldeten Tod von Frauen und Kindern in Beit Hanoun kritisiert.
Möglicherweise eine indirekte Folge der Niederlage George Bushs bei den
Kongresswahlen. Man sollte das Signal nicht übersehen - überschätzen
auch nicht. Die Kritik nach dem Verbrechen von Beit Hanoun ist nicht
mehr als eine Kritik unter Freunden. Wo waren die Amerikaner, als die
Palästinenser zuletzt den UN-Sicherheitsrat regelrecht anflehten, doch
endlich etwas zu unternehmen, um das Töten im Gaza-Streifen zu stoppen?
Warum blieben auch die anderen Mitglieder dieses Gremiums taub? Es kann
ihnen kaum entgangen sein, dass es für die Palästinenser um das nackte
Überleben geht. Haben sie einfach resigniert, weil die USA ohnehin ihr
Veto einlegen, wenn Israel verurteilt werden soll? Nach der gezielten
Tötung der vier UNIFIL-Soldaten im Beobachtungsposten Khiyam am 25.
Juli, noch einmal nach dem Massaker im südlibanesischen Kana am 30.
Juli, als Israel zur Rechenschaft gezogen werden sollte, und jetzt nach
Beit Hanoun - man kann sich auf das Veto der USA verlassen.
Israel versteht es, sich als alleiniges Opfer hinzustellen und die
Vergangenheit als Rechtfertigung für das heranzuziehen, was heute gegen
die Palästinenser geschieht - es geschieht im Namen unserer Toten, die
sich nicht wehren können. Aber wir, die Lebenden, wir können uns wehren
und klar sagen: Nicht in unserem Namen. Nicht in meinem Namen - das ist
Missbrauch der Geschichte.
Felicia Langer ist Schriftstellerin, Rechtsanwältin und Trägerin des
Alternativen Nobelpreises