Panzer mit David-Stern
ISRAEL - In den Augen der Welt längst ein normaler Staat - nur
benimmt er sich vollends anormal
Tony Judt
Freitag 29 - 21.07.2006
http://www.freitag.de/2006/29/06290301.php
Mit einem Alter von 58 Jahren sollte ein Staat - genau wie ein Mann -
eine gewisse Reife erreicht haben. Nach fast sechs Jahrzehnten der
Existenz wissen wir ein für alle Mal, wer wir sind, was wir getan
haben, wie wir gegenüber anderen erscheinen. Auch wenn wir noch
gelegentlich Illusionen über uns selbst nachhängen, sind wir doch weise
genug, um diese als solche anzuerkennen. Kurz gesagt: Wir sind
erwachsen.
Der Staat Israel bleibt seltsamerweise - und unter den westlichen
Demokratien einzigartig - unreif. Die sozialen Wandlungen und seine
vielen wirtschaftlichen Errungenschaften haben ihm nicht die politische
Weisheit gebracht, die sonst dieses Alter begleitet. Von außen gesehen
benimmt sich Israel noch immer wie ein pubertierender Jugendlicher:
erfüllt vom zerbrechlichen Vertrauen in die eigene Einzigartigkeit,
voll verletzlicher Selbstbewunderung, schnell gekränkt und schnell im
Austeilen. Wie viele Jugendliche ist Israel davon überzeugt, tun und
lassen zu können, was es will, und von dem Glauben beseelt, unsterblich
zu sein.
Aber - so werden mir die Leser vorwerfen - das ist doch nur eine
vorgefasste Meinung. Was von außen wie ein eigensinniges Land
erscheint, gleichgültig gegenüber der Weltmeinung, das ist einfach ein
kleiner Staat, der tut, was er immer getan hat: Er achtet auf seine
eigenen Interessen in einem ungastlichen Teil der Welt. Warum sollte
das stets kampfbereite Israel Kritik von außen zur Kenntnis nehmen oder
gar darauf reagieren? Warum sollte Israel sich ändern?
Aber die Welt hat sich gewandelt, und dieser Wandel ist in Israel
größtenteils nicht bemerkt worden. Darauf möchte ich aufmerksam machen.
Vor 1967 ist der israelische Staat auch klein und kampfbereit gewesen,
aber er war nicht unbeliebt, schon gar nicht im Westen. Der Sowjetblock
war natürlich anti-zionistisch; genau deswegen wurde der Staat Israel
von allen anderen anfangs besonders gut behütet, einschließlich der
nicht kommunistischen Linken. Das romantische Image der Kibbuzniks
hatte während der ersten beiden Jahrzehnte nach der Staatsgründung
einen breit gefächerten Werbeeffekt. Die meisten Bewunderer Israels -
Juden wie Nicht-Juden - wussten dagegen wenig über die palästinensische
"Nakba" - die Katastrophe von 1948*. Sie sahen im jüdischen Staat die
letzte Inkarnation eines agrarischen Sozialismus, eines Idylls aus dem
19. Jahrhundert, das "die Wüste zum Blühen bringt".
Ich erinnere mich noch gut an den Sommer 1967, als die Meinung der
Studenten an der Universität Cambridge kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg
überwältigend pro-israelisch war. Man kümmerte sich wenig um die Lage
der Palästinenser, wie man sich auch kaum für den Zusammenstoß Israels
mit Frankreich und Großbritannien beim verheerenden Suez-Abenteuer von
1956 interessiert hatte. In Diplomaten-Kreisen übten nur konservative
Arabisten Kritik am jüdischen Staat.
Nach 1967 blieben diese Gefühle noch eine Weile unverändert. Der
pro-palästinensische Enthusiasmus der radikalen 68er-Gruppen wurde
durch die wachsenden Erkenntnisse über den Holocaust, durch Bildung und
Medien kompensiert: Was Israel durch die andauernde Besetzung
arabischen Territoriums an Ansehen verlor, gewann es durch seine
Identifizierung mit dem Gedenken an die ermordeten Juden Europas.
Selbst der Bau illegaler Siedlungen und die verheerende Invasion im
Libanon 1982 konnten die internationale Meinungsbalance nicht
erschüttern. Auch jene, die versuchten, den "Fall Palästina" nicht in
Vergessenheit geraten zu lassen, mussten zugeben, dass ihnen keiner
zuhörte. Israel konnte tun, was es wollte.
Heute ist alles anders. Wir können im Rückblick sehen, dass der Sieg
vom Juni 1967 und die andauernde Besatzung in den damals eroberten
Gebieten zur "Nakba" des jüdischen Staates wurde: eine moralische und
politische Katastrophe. Israels Aktionen in der Westbank und im
Gazastreifen haben das Fehlverhalten des Landes vergrößert und es vor
einer beobachtenden Welt zur Schau gestellt. Ausgangssperren,
Kontrollpunkte, Bulldozer, öffentliche Demütigungen, Hauszerstörungen,
Schießereien, "gezielte Tötungen", der Trennungszaun - all die
Besatzungsroutine und Unterdrückung. Die Folge davon ist ein völliger
Wandel im Urteil. Noch vor kurzem dominierte das sorgfältig aufpolierte
Image einer ultramodernen Gesellschaft, aufgebaut von Überlebenden des
Holocaust und den Pionieren der Gründerjahre, bevölkert von
friedliebenden Demokraten - heute ist das universelle Symbol für
Israel, das weltweit in den Karikaturen der Zeitungen auftaucht, der
Davidstern auf einem Panzer.
Nur noch eine Minderheit sieht die Israelis als Opfer. Als die
wirklichen Opfer - und das ist weitgehend Konsens - gelten die
Palästinenser. Sie haben die Juden als Symbol der verfolgten Minderheit
ersetzt - eine Wende, durch die Israel neu definiert wird. Vergleiche
mit einem Kolonialherren und - was schlimmer ist - mit dem Südafrika
der Rassengesetze und Bantustans sind zu hören. Israel weckt nur noch
wenig Sympathie, selbst wenn seine Bürger leiden: Tote Israelis werden
- wie die ermordeten weißen Südafrikaner zu Zeiten der Apartheid -
weniger als Opfer des Terrorismus, mehr als Kollateralschaden einer
fehlgeleiteten Politik gesehen.
Solche Vergleiche sind für Israels moralische Glaubwürdigkeit tödlich.
Sie treffen das, was einmal seine überzeugendste Legitimation war: die
Behauptung, eine verwundbare Insel der Demokratie und des Anstandes in
einem Meer von autoritären Systemen und Grausamkeiten zu sein; eine
Oase des Rechtes und der Freiheit. Aber Demokraten sperren ein
hilfloses Volk, dessen Land sie erobert haben, nicht in Bantustans, sie
ignorieren weder das Völkerrecht noch stehlen sie die Häuser der
anderen. Die Widersprüche der israelischen Selbstdarstellung - "wir
sind stark/wir sind verwundbar"; "wir kontrollieren selbst unser
Schicksal/wir sind die Opfer"; "wir sind ein ganz normaler Staat/wir
verlangen eine besondere Behandlung" sind nicht neu, sie prägten die
israelische Identität von Anfang an. Die hartnäckige Betonung von
Isolation und Einzigartigkeit sowie der Anspruch, sowohl Opfer als auch
Held zu sein, gehörten schon immer zur "David-gegen-Goliath-Werbung" in
eigener Sache.
Aber die lang gehegte Verfolgungsmanie nach dem Motto: "Jeder möchte
uns eins auswischen", löst nicht mehr die gewohnten Sympathien aus.
Selbst der Holocaust kann nicht länger als Entschuldigung für Israels
Verhalten instrumentalisiert werden. Bis zum Ende des Kalten Krieges
konnte mit der Schuld der Deutschen wie anderer Europäer gespielt und
der Vorwurf erhoben werden: Sie alle würden nicht anerkennen, was Juden
in ihrem Lande angetan wurde. Jetzt, da sich die Geschichte des Zweiten
Weltkrieges von den öffentlichen Plätzen in Klassenzimmer und
Geschichtsbücher zurückzieht, wächst die Zahl derer, die nicht
verstehen, wie man sich auf die Schrecken des letzten europäischen
Krieges berufen kann, um sich ein unannehmbares Verhalten in einer
anderen Zeit und an einem anderen Ort zu genehmigen. In den Augen der
beobachtenden Welt ist der Umstand, dass die Urgroßmutter eines
israelischen Soldaten in Treblinka starb, keine Entschuldigung dafür,
dass er eine am Kontrollpunkt wartende Palästinenserin demütigt. "Denk
an Auschwitz!" ist keine akzeptable Antwort mehr.
Kurz gesagt: in den Augen der Welt ist Israel ein normaler Staat - aber
er benimmt sich anormal. Er ist stark, sogar sehr stark - aber sein
Verhalten verletzt andere. Da es dafür keine Rechtfertigung gibt,
fallen Israel und seine Unterstützer mit wachsendem Lärm auf die
Behauptung zurück: Weil Israel ein jüdischer Staat sei, werde er
kritisiert. Der Vorwurf, wonach Kritik an Israel stillschweigend
antisemitisch sei, gilt in Israel und den USA als Trumpfkarte
schlechthin. Wird sie zuletzt immer hartnäckiger und aggressiver
ausgespielt, dann weil es die einzig noch verbliebene Karte ist.
Wenn Israel die Bevölkerung in den besetzten Gebieten ausraubt und
demütigt, aber jedem Kritiker mit lauter Stimme "Antisemit"
entgegenschleudert, heißt das in Wirklichkeit: Was im Libanon, in der
Westbank und in Gaza geschieht, das sind keine israelischen, sondern
jüdische Akte. Und wenn du das nicht magst, dann nur, weil dir Juden
unsympathisch sind.
In vielen Teilen der Welt läuft diese Position Gefahr, eine sich selbst
erfüllende Prophezeiung zu werden: Israels hartnäckige Gleichsetzung
jeder Kritik mit Antisemitismus wird zur Ursache eines antijüdischen
Gefühls im westlichen Europa ebenso wie in großen Teilen Asiens. Denn
der zionistische Traum hat sich voll und ganz erfüllt: Für zig
Millionen Menschen in der Welt von heute ist Israel tatsächlich der
Staat aller Juden geworden. Gerade deshalb glauben viele Beobachter, es
wäre gut, würde Israel den Palästinensern ihr Land zurückgeben, um
einem wachsenden Antisemitismus in den Vororten von Paris und den
Straßen Jakartas zu begegnen.
Wenn Israels Führer solche Entwicklungen bisher ignorieren konnten, lag
das daran, dass sie weiterhin mit dem unkritischen Beistand der USA
rechnen durften, dem einzigen Land der Welt, in dem die Behauptung,
Antizionismus sei gleich Antisemitismus, nicht nur die Meinung vieler
Juden, sondern auch vieler Politiker ist. Aber dieses träge, tief
verwurzelte Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung durch die
Amerikaner führt zur Selbstblockade Israels.
Es ist noch nicht so lange her, dass Ariel Sharons Berater fröhlich
ihren Erfolg feierten, dem US-Präsidenten ein öffentliches Statement
diktiert zu haben, das illegale Siedlungen billigte. Kein
Kongressabgeordneter in Washington hat es bisher gewagt, eine Kürzung
der jährlichen Drei-Milliarden-Dollar-Hilfe für Israel vorschlagen, die
dabei hilft, den Libanon anzugreifen und den Siedlungsbau in den
besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten - Israelis und Amerikaner
scheinen in symbiotischer Umarmung verbunden.
Doch die USA sind eine Großmacht - und Großmächte haben Interessen, die
früher oder später die lokalen Obsessionen auch ihrer engsten
abhängigen Alliierten nicht unberührt lassen. Es scheint mir von nicht
geringer Bedeutung, dass der jüngst erschienene Aufsatz Die
Israel-Lobby von Mearsheimer und Walt eine solch große öffentliche
Resonanz auslöste. Mearsheimer und Walt gelten in den USA als
prominente Akademiker mit tadellosen konservativen Referenzen. Es
stimmt, dass sie ihre vernichtende Anklage über den Einfluss der
Israel-Lobby auf die US-Außenpolitik in keiner großen Zeitung
veröffentlichen konnten (der Aufsatz erschien in der London Review of
Books) - vor zehn Jahren allerdings hätten sie ihn vermutlich nirgendwo
veröffentlichen können.
Tatsache ist, dass sich angesichts der verheerenden Irak-Invasion die
außenpolitische Debatte in den USA zu ändern beginnt. Prominenten
Denkern aus dem gesamten politischen Spektrum wird zunehmend klar, dass
es in den vergangenen Jahren einen katastrophalen Verlust an
internationalem Einfluss gab und das moralische Image degeneriert ist.
Es gibt einen enormen Reparaturbedarf, um das Geschäft mit
wirtschaftlich und strategisch vitalen Regionen von Nahost bis
Südostasien nicht weiter zu belasten. Nur kann diese Inventur nicht
gelingen, solange die USA wie mit einer Nabelschnur an die Bedürfnisse
und Interessen eines kleinen nahöstlichen Landes gebunden sind, das
nach Mearsheimer und Walt eher eine strategische Bürde ist.
Als Dozent bin ich über den Wandel der Haltung bei Studenten
überrascht. Nur ein Beispiel: An der New Yorker Universität hielt ich
im Mai Vorlesungen über die Geschichte Nachkriegseuropas. Ich
versuchte, jungen Amerikanern den Platz des Spanischen Bürgerkrieges im
politischen Gedächtnis der Europäer und das von unseren
Wertvorstellungen bestimmte Urteil über das Spanien Francos zu
erklären: als Symbol der Unterdrückung in einer Zeit des Liberalismus,
als Land der Schande, das wegen seiner Verbrechen boykottiert wurde.
Ich erinnere mich, dass ich zu den Studenten sagte, über kein anderes
Land sei im demokratischen Bewusstsein so geringschätzig gedacht
worden. Eine Studentin erwiderte: "Wie ist es mit Israel?" Zu meiner
großen Überraschung stimmte der größte Teil des Seminars zu, auch die
jüdischen Teilnehmer. So ändern sich die Zeiten. Dass man von jungen
Amerikanern mit dem franquistischen Spanien verglichen wird, sollte die
Israelis schockieren - es ist fünf Minuten vor zwölf.
Israel ist blind gegenüber der Gefahr, dass seine Exzesse bis hin zum
Einmarsch in den Libanon seinen imperialen Mentor an den Punkt der
Irritation und darüber hinaus bringen. Gewiss, der moderne israelische
Staat hat große Waffen, sehr große Waffen. Doch kann er damit etwas
anderes, als sich Feinde machen? Das moderne Israel hätte andere
Optionen. Gerade weil es zum Objekt eines universalen Misstrauens wurde
und die Menschen heute so wenig von ihm erwarten. Eine wahrlich
staatsmännische Zäsur - zum Beispiel Verhandlungen mit den
Palästinensern ohne Vorbedingungen, indem man die Hamas ernst nimmt und
ihr für die Anerkennung Israels ein seriöses Angebot macht - könnte
unverhältnismäßig wohltuende Auswirkungen haben. Ein solch radikaler
Wandel würde freilich jedes Klischee und jede Illusion in Frage
stellen, mit denen sich Israel und seine politische Elite so behaglich
eingerichtet haben.
Führer anderer Länder haben eine vergleichbare Neuorientierung zustande
gebracht: Als für Charles de Gaulle außer Zweifel stand, dass sich
Frankreichs Bastionen in Algerien (die viel älter waren als Israels
Siedlungen in der Westbank) zu einer militärischen und moralischen
Katastrophe auswuchsen, handelte er. Mit außergewöhnlichem politischen
Mut zog sich der General aus Nordafrika zurück. De Gaulle war damals
ein erfahrener Staatsmann und fast 70 Jahre alt. Israel kann es sich
nicht leisten, noch solange zu warten. Mit 58 sollte die Zeit gekommen
sein, erwachsen zu werden.
(Übersetzung Ellen Rohlfs) (*) Gemeint ist die Vertreibung von einer
Million Palästinensern aus ihrer Heimat nach dem Nahostkrieg von
1947/48 und der israelischen Staatsgründung zum gleichen Zeitpunkt.
Professor Tony Judt ist Direktor des Remarque Instituts an der New
Yorker Universität, nach diversen anderen Veröffentlichungen erschien
2005 sein Buch Nachkriegszeit: die Geschichte Europas seit 1945.