Die Wahrheit über die Mauer

von Yigal Bronner

ZNet 05.10.2003

Nur Vögel könne sie leicht überwinden, die Wand, mit der sich Israel auch selbst einmauert. (dpa)
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Am Morgen nach dem horrenden Terroranschlag auf das Café Hillel in Jerusalem wurde der israelische Finanzminister Binyamin Netanyahu in einem Radio-Interview gefragt, ob dies wirklich der richtige Zeitpunkt für Streichungen im Militärbudget sei. Er antwortete mit dem - erneuten - Versprechen, das Geld für den sogenannten “Trennungszaun” bliebe von den Kürzungen unberührt - diese Gelder würden im Gegenteil noch schneller fließen, um den Bau zu beschleunigen. Dies, so Netanyahu, mit dem Ziel, die Sicherheit der Bürger Israels zu gewährleisten. Ob der Zaun tatsächlich zu Frieden und Sicherheit führt - diese Frage zu stellen kam dem Interviewer gar nicht in den Sinn. Denn sobald die Gewalt eskaliert und die Debatte sich emotional aufheizt - so ist das mit allen Themen dieser Art -, wird es unmöglich, eine andere Meinung zu vertreten. Und Israels politische Parteien - das ganze Spektrum, von Meretz bis Likud - überschlagen sich mit Bekundungen ihrer Unterstützung für den “Zaun”. Folglich findet eine der dramatischsten geopolitischen Veränderungen in der Geschichte der Region in Abwesenheit jeglicher öffentlicher Debatte statt. Wir müssen innehalten und den Nebel der Mauer-Lügen durchdringen.

Die erste Lüge steckt schon in der Bezeichnung “Trennungszaun”: eine Vorstellung, die der erschöpften und besorgten israelischen Öffentlichkeit das Versprechen suggeriert, die Palästinenser, samt aller Probleme, die wir im Umgang mit ihnen haben, würden einfach “hinter dem Zaun” verschwinden. Wir hier, sie dort - und Friede uns allen. Aber der Zaun steht keineswegs für Trennung zwischen Palästinensern und Israelis - ganz im Gegenteil. Die jetzt im Bau befindliche Mauer führt dazu, dass Israel einen prozentual beträchtlichen Teil der Westbank annektiert. Hunderttausende Palästinenser werden somit auf der westlichen, also der israelischen, Seite der Mauer verbleiben - und auf der östlichen, der palästinensischen, Seite, dafür tausende jüdische Siedler. Separation ist das jedenfalls nicht.

Zweite Lüge: der Zaun konstituiere eine Grenze, auf deren östlicher Seite jener “Palästinenserstaat”, über den Scharon so gerne redet, gegründet werde. Wir sprechen aber nicht von einem einzelnen Zaun vielmehr von zwei Mauern - mindestens. Die eine - auf westlicher Seite - wird dem Gebiet der Palästinenser möglichst viele Kilometer wegstehlen, entlang der ‘Grünen Linie’, während durch die zweite Mauer - die östliche - abgelegene Siedlungen, wie Ariel oder Kiryat Arbah, annektiert werden. Zwischen den Mauern liegen verschiedene Arten von Hindernissen, Zäune und Gräben. Eine derartige Installation wird die bevölkerungsreichen Westbank-Zentren also irreversibel in isolierte Menschenkäfige verwandeln. Was hier entsteht, ist kein Staat vielmehr eine hingeworfene Ansammlung von Gettos. Nehmen wir zum Beispiel Jerusalem. Die Mauer, wie sie hier gebaut wird, ist nicht identisch mit der Trennlinie zwischen den jüdischen und den palästinensischen Stadtvierteln. Die palästinensischen Viertel werden durch sie allesamt in zwei Hälften geteilt - dadurch würden weit mehr als 100 000 Palästinenser annektiert. Hinzu kommt: Hunderttausende Palästinenser würden außerhalb des Zauns landen - die Mehrzahl von ihnen Einwohner Jerusalems mit gültigen israelischen Papieren, Leute, deren ganze Existenz von der Stadt abhängt u. mit ihr verbunden ist. Diese Menschen werden gehindert sein, in die Stadt zu kommen und wären somit abgeschnitten von ihrer Erwerbsquelle, von ihren Ausbildungszentren u. ihren Krankenhäusern. Nicht nur das, auch nach Osten können sie sich nicht wenden. Denn dort sähen sie sich umzingelt von Mauern und Straßen - gebaut, um (die jüdischen Siedlungen) Ma’aleh Adumim, Pisgat Zeev, Nokdim u. Tekoa zu umschließen. Kaum zu beschreiben, die Vielzahl humanitärer Probleme, die die Mauern auf östlicher Seite der Metropole Jerusalem erzeugen werden. Diese Seite wird in ein vielarmiges System von Einschlüssen aufgespaltet. Die israelische Öffentlichkeit ist jedoch nicht willens, diese humanitäre Frage zu berücksichtigen. Schließlich hat man ihnen versprochen, der Zaun werde ihnen die langersehnte Sicherheit bringen. Wobei wir bei der dritten Zaun-Lüge wären. Auch hier ist ein Blick auf die Situation Jerusalems lehrreich. Während der derzeitigen Intifada war Ost-Jerusalem die ruhigste palästinensische Region. Die Mauer, die mitten durch Straßen und Familien schneiden wird, wird jedoch viele Menschen hervorbringen, die nichts mehr zu verlieren haben. Und sind erst zehntausende Palästinenser an Israel angeschlossen, werden sie gleichzeitig abgetrennt sein von ihren Brüdern - während die (jüdischen) Siedler zunehmend bestrebt sind, die Oberhand zu gewinnen (in Har Homa, Jabel Mukkaber, Ras el Ammud, Sheikh Jarrakh sowie im muslimischen Viertel der Altstadt, etc. sind sie ja bereits). Auch das Projekt der Zerstörung palästinensischer Häuser wird einen massiven Schub erfahren, und die Regierung wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um die palästinensischen Bürger rauszuwerfen. Was wir hier sehen, ist ein großes Fass Dynamit. Denn anstatt Ramallah u. Bethlehem von Jerusalem weiter zu entfernen, wird die Mauer diese Orte in die Stadt importieren.

Klar ist auch, diese Probleme werden sich nicht auf Jerusalem beschränken. Und natürlich gibt es auch Regionen - wenn auch wenige - in denen der Bauverlauf des Zauns mit der ‘Grünen Linie’ übereinstimmt, ohne palästinensisches Gebiet bzw. dessen Bewohner zu annektieren. Ein Beispiel hierfür sind Tulkarm und Kalkilyah. Aber wer die Illusion hegt, dieser Zaun werde Sicherheit bringen, macht sich etwas vor. Die Anhänger des Zauns pflegen ständig auf das Beispiel Gazastreifen zu verweisen. Ein faszinierendes Beispiel - in der Tat. Das umzäunte Gaza befindet sich praktisch hinter Schloss und Riegel - und das wegen einer Hand voll (jüdischer) Siedlungen, die zusammen einen beträchtlichen Teil des Lands kontrollieren. Es ist so friedlich dort, dass die israelische Armee (IDF) ständig nach einer Großinvasion ruft. Und die Airforce greift die Gegend kontinuierlich mit Granaten an. Die Sicherheit durch den Zaun wissen vor allem die (israelischen) Menschen in Sderot u. Ashkelon zu schätzen, die mit selbstgebastelten Raketen (aus Gaza) angegriffen werden - eine bekannte Tatsache. Denn solange die Okkupation währt, werden die Menschen von Gaza Widerstand leisten. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie bessere Waffen entwickelt haben und noch geschickter sind, sich durch oder unter den Zäunen durchzugraben bzw. über sie hinwegzusteigen.

Die Regierung Scharon missbraucht die Urängste des israelischen Volks in puncto Sicherheit bzw. den Wunsch der Mehrheit nach einer politischen Trennung von den Palästinensern, um ein System der Zäune zu errichten. Dieses System wird aber keine Trennung bringen, es wird keine Grenze schaffen und letztendlich auch keine Sicherheit bringen. Was wir mit diesem “Zaun” wiedereinaml sehen, ist ein typisches, durchkalkuliertes “scharonitisches” Täuschungsmanöver. Der wirkliche Zweck dieser Mauern liegt ganz woanders. Die Mauern sind gemeint als neue Schicht - vielleicht als ultimative - der komplexen Kontroll-Matrix israelischer Besatzung; diese Kontroll-Matrix besteht aus den Siedlungen, den Straßen, den Straßensperren, Ausgangssperren, Abriegelungen u. brutaler militärischer Gewalt. Zweck der Mauern, die Scharon jetzt errichten lässt, ist es, den israelischen Klammergriff um das Land, das es 1967 eroberte, irreversibel zu machen. Die Mauern sind der finale Sargnagel der Zwei-Staaten-Lösung. In anderthalb Jahren wird es für uns ein Erwachen geben - in einer drastisch veränderten Realität: Zwischen Jordan und Mittelmeer wird sich ein brutaler Staat erstrecken - ein Staat aus abgeriegelten Pferchen, gegen den die südafrikanische Apartheid rein gar Nichts war. Es wird nicht weniger Gewalt geben sondern mehr. Der Hass wird weiter zugenommen haben und auch der Rassismus. Wo das alles endet - darüber nachzudenken wäre einfach zu schrecklich.

Yigal Bronner lehrt an der Universität von Tel Aviv ‘Südasiatische Studien’ und ist Aktivist bei ‘Ta’ayush - arabisch-jüdische Partnerschaft’.

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Übersetzt von: Andrea Noll
Orginalartikel: "The Truth About The Wall"