Die Legende vom Ende der Neocons
Knut Mellenthin
junge Welt 12.12.2006 / Thema, Seite 10
und 13.12.2006 / Thema,
Seite 10
Teil I: Totgesagte leben länger
US-amerikanische Neokonservative rücken von der Politik des
US-Präsidenten George W. Bush ab – um ihn von rechts zu kritisieren
Am 30. Oktober, eine Woche vor den Kongreßwahlen in den USA, wartete
Spiegel online mit einer frohen Botschaft auf: »Das Ende der Neocons« –
so die Artikelüberschrift – stehe greifbar nahe bevor. »Ein Verlierer
der US-Kongreßwahl steht jetzt schon fest, egal wer am kommenden
Dienstag gewinnt: die Neokonservativen. Deren Ideologie von einer
militärisch demokratisierten Welt unter amerikanischer Führung ist im
Irak gescheitert.«
An diesem Satz sind die wichtigsten Punkte falsch: Die Neokonservativen
stehen nicht für eine Ideologie, sondern für eine politische Strategie
und für konkretes Handeln. Um Demokratisierung der Welt geht es dabei
ganz und gar nicht. Sondern langfristig ist das Ziel, durch eine
hybride Rüstung den USA die Hegemonie über die Welt für alle Zeiten zu
sichern, wobei letztlich Rußland und mehr noch China die Hauptfeinde
der Zukunft sind. Kurz- bis mittelfristig geht es darum, unter dem
betrügerischen Titel einer »Neuordnung« den gesamten Nahen und
Mittleren Osten immer weiter zu chaotisieren und in permanenten
Kriegszustand zu versetzen.
Daß diese Strategie bereits »gescheitert« sei, ist eine vorschnelle
Annahme. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die USA ihre Kriege im Irak
und in Afghanistan noch jahrelang weiterführen wollen, mit entsprechend
destruktiven Folgen für die Bevölkerung der betroffenen Staaten.
Luftangriffe gegen den Iran, möglicherweise sogar der erste
Atomwaffeneinsatz seit 1945 bleiben als ganz selbstverständlich
erörterte »Optionen« weiterhin auf dem Tisch. Und die Ausweitung des
Afghanistan-Krieges auf das benachbarte Westpakistan ist vermutlich nur
eine Frage der Zeit.
Nur zwei Überläufer
Um die These vom Ende der Neocons trotzdem irgendwie halbwegs plausibel
erscheinen zu lassen, präsentierte Spiegel online einen einzigen
Neokonservativen, der inzwischen der Strömung den Rücken gekehrt hat:
Francis Fukuyama, bekannt geworden als Autor des 1992 erschienenen
Buches »The End of History and the Last Man« (Das Ende der Geschichte).
Um Fukuyamas Abfall von den Neocons als bedeutend erscheinend zu
lassen, behauptete das Nachrichtenmagazin, er sei »lange der
Lieblingsideologe der Republikaner« gewesen, und er gelte als »Vater
der Neocons«. Die erste Aussage stimmt nicht und die zweite ist völlig
falsch. Fukuyama war gerade mal um die 15 Jahre alt, als sich in der
zweiten Hälfte der Sechziger die Strömung der Neokonservativen
herauszubilden begann. Er hat in den neunziger Jahren zwei von den
Neocons initiierte offene Briefe unterschrieben. Und er hat 1997, neben
vielen anderen, die Gründungserklärung (Statement of Principles) des
Project for the New American Century unterzeichnet. Damit ist seine
Rolle unter den Neocons im wesentlichen auch schon umrissen. Zu den
Tonangebern dieser Strömung hat er nie gehört, an ihren Diskussionen
hat er sich kaum beteiligt. Daher hat es jetzt auch keine große
Bedeutung, wenn er sich kritisch über die praktischen Ergebnisse der
neokonservativen Strategie ausspricht.
Spiegel online behauptete weiter: »Mit ihm (Fukuyama – K. M.) kehrten
inzwischen die meisten alten Kämpen (der Neokonservativen – K. M.) den
Republikanern den Rücken. Neocons, ade.« – Die meisten? Also zweifellos
doch wohl sehr viele und zumindest mehr als die Hälfte? Aber weit
gefehlt: Das Nachrichtenmagazin nannte außer Fukuyama nicht einen
einzigen Namen. Viel mehr zu nennen dürfte auch sehr schwerfallen, denn
es gibt nur noch einen weiteren namhaften Politiker aus den Reihen der
Neokonservativen, der mittlerweile die Seiten gewechselt hat: Richard
Lee Armitage, der von 2001 bis 2005 stellvertretender Außenminister
unter Colin Powell war.
Die meisten Neocons haben den Republikanern den Rücken gekehrt?
Tatsächlich haben sie der Republikanischen Partei immer schon mit
deutlicher Distanz gegenübergestanden. Anderenfalls wären sie keine
eigenständige politische Strömung, die sich seit nunmehr fast vierzig
Jahren behauptet. Die Republikaner sind aus neokonservativer Sicht
lediglich ganz eindeutig das geringere Übel, verglichen mit der
Demokratischen Partei. Daran hat sich absolut nichts geändert und wird
sich nach Lage der Dinge auch künftig nichts ändern. Weder laufen die
Neocons zu den Demokraten über, noch gehen sie, soweit es sich heute
beurteilen läßt, als Strömung ihrer Selbstauflösung entgegen.
Es wäre überflüssig, über den Spiegel in diesem Zusammenhang auch nur
ein Wort zu verlieren, wenn seine Phantastereien nicht symptomatisch
wären für Dutzende von Artikeln der Mainstreammedien, die in ähnlich
oberflächlicher, voreiliger und vor allem sachlich völlig falscher
Weise das Ende der Neocons abfeiern. Totgesagte leben länger, heißt es
zu Recht, und die US-amerikanischen Neokonservativen haben in den vier
Jahrzehnten ihrer Existenz als politische Strömung schon eine ganze
Reihe von Totsagungen überlebt.
Eine zentrale Rolle bei der jetzigen Legendenbildung über das Ende der
Neocons spielt ein Artikel, der am 3. November, vier Tage vor der
Kongreßwahl, vom Magazin Vanity Fair verbreitet wurde. Überschrieben
mit »NOW they tell us« (»Das sagen sie uns JETZT«) und »Neo Culpa« –
letzteres eine Anspielung auf den lateinischen Ausspruch »mea culpa«
(meine Schuld), das traditionelle Bekenntnis reumütiger Sünder in der
katholischen Kirche. Bei dem Artikel handelte es sich um die
Kurzfassung einer Reihe von Interviews mit hochkarätigen Figuren des
Neokonservativismus. Die vollständigen Interviews sollen erst in der
Januarausgabe von Vanity Fair erscheinen.
Keine Schuldbekenntnisse
Die im Internet vorab verbreitete Kurzfassung war eine äußerst
geschickt redigierte, auf die Schlußphase des Wahlkampfs berechnete
Intervention zugunsten der Demokratischen Partei. Die suggerierte
Kernaussage: Die Führer der neokonservativen Strömung sind verzweifelt
über das Fiasko ihrer Strategie im Irak und fallen jetzt mit
Schuldzuweisungen über Präsident George W. Bush her. In diesem Sinn
formulierte Harper's Magazine am 20. November sehr witzig, aber
inhaltlich voll daneben, über einen der interviewten Neocons, Kenneth
Adelman: »Eine Ratte verläßt das Narrenschiff«. Spiegel online schrieb
am 4. November unter Bezugnahme auf Vanity Fair: »Um den amerikanischen
Präsidenten wird es wenige Tage vor den Kongreßwahlen immer einsamer.
Nun gehen auch die Neokonservativen wegen des Irak-Krieges zu Bush auf
Distanz.«
Am 5. November antworteten die interviewten Neokonservativen – Richard
Perle, Michael Ledeen, Eliot Cohen, Michael Rubin, Frank Gaffney und
David Frum – auf die Veröffentlichung von Vanity Fair, indem sie dem
Magazin unfaires Verhalten vorwarfen. Ihre persönlichen Stellungnahmen
erschienen auf den Internetseiten der National Review, dem wichtigsten
Debattenforum der Neocons. Ein zentraler Vorwurf, den übereinstimmend
alle erhoben, lautete: Ihnen sei ausdrücklich versprochen worden, daß
der Artikel erst in der Januarausgabe und auf gar keinen Fall vor der
Wahl erscheinen werde. Mit der Vorabveröffentlichung seien ihre
Stellungnahmen bewußt für den Wahlkampf gegen die Republikaner und
gegen Präsident Bush instrumentalisiert und teilweise auch manipuliert
worden.
Einige Interviewte behaupteten darüber hinaus, ihre Aussagen seien
sinnwidrig, »außerhalb des Kontextes«, zitiert worden. Keiner stellte
nachträglich sein Werben für den Irak-Krieg in Frage. Trotzig
verkündete beispielsweise David Frum, der frühere Redenschreiber von
Bush, der 2002 die »Achse des Bösen« erfand: »Meine grundsätzlichen
Ansichten über den Irak-Krieg sind immer noch dieselben wie 2003: Der
Krieg war richtig, der Sieg ist lebenswichtig und eine Niederlage wäre
eine Katastrophe.«
Keiner der von Vanity Fair befragten Neokonservativen wollte Bush
persönlich kritisiert haben. Der Präsident, so der allgemeine Tenor der
Stellungnahmen in National Review, habe lediglich die falschen Berater.
Der dreiwöchige Krieg im Frühjahr 2003 sei brillant geführt worden,
aber die danach betriebene Politik sei voller verhängnisvoller Fehler
gewesen. Das sei im übrigen keine neue Erkenntnis, sondern diese Kritik
habe man schon vor drei Jahren öffentlich geäußert.
Letzteres ist eindeutig richtig. Am weitesten gingen dabei Richard
Perle und David Frum mit ihrem im Dezember 2003 veröffentlichten Buch
»An End to Evil. How to Win the War on Terror« (Dem Bösen ein Ende. Wie
man den Krieg gegen den Terror gewinnt). In provozierend aggressiver,
primitiv schwarzweißmalender, bewußt beleidigender Tonart beschuldigten
die beiden Autoren 99 Prozent der amerikanischen Politiker und
Meinungsmacher der Feigheit und der politischen Blindheit. Nur wenige
nahmen sie von diesem vernichtenden Urteil aus: den Präsidenten,
Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, zwei
oder drei weitere Spitzenfunktionäre des Pentagon und von den
Politikern der Demokratischen Partei nur Joe Lieberman. Zwei Jahre nach
dem Schock des 11. September 2001 hätten die Politik- und Medieneliten
der USA die Lust am »Krieg gegen den Terror« verloren, behaupteten
Perle und Frum. Als Gegenstrategie stellten sie ein Panoptikum
abenteuerlicher Vorschläge vor. So etwa eine Militärintervention in
Saudiarabien und die vollständige wirtschaftliche und politische
Isolierung Frankreichs.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß die meisten tonangebenden
Neokonservativen – das gilt natürlich nicht für diejenigen, die
Regierungsämter haben oder hatten – sich tatsächlich schon seit etwa
Sommer 2003 in offener Opposition zur Bush-Regierung befinden. Kern
dieser Opposition ist die Kritik, daß die Regierung nicht aggressiv
genug vorgeht und daß sie viel zuviel Rücksicht auf andere Staaten –
die Europäer, aber auch Rußland und China – nimmt. Nichts daran läßt
sich vernünftigerweise so interpretieren, daß auch nur ein relevanter
Prozentsatz von ihnen heute den angerichteten Schaden selbstkritisch
reflektieren würde. Die Legende vom »Ende der Neocons« ist ein evident
den Tatsachen widersprechender Schwindel. Er geht von der
Demokratischen Partei der USA und den ihnen nahestehenden Medien aus,
und er liegt auf gleicher Ebene wie die seit der Kongreßwahl permanent
wiederholten Behauptungen, es stehe ein grundlegender Wandel der
US-amerikanischen Irak-Politik bevor.
Konservative und Neokonservative
Vor über zehn Jahren, im Januar 1996, veröffentlichte die rechte
Propagandazentrale American Enterprise Institute einen sehr
bemerkenswerten Vortrag, der den schlichten Titel trägt:
»Neoconservativism – A Eulogy« (Neokonservativismus – Eine Grabrede).
Autor war ein Mann, der zu Recht als einer der Gründerväter dieser
Strömung gilt: der 1930 geborene Norman Podhoretz. Aus der linken
Studentenbewegung der frühen sechziger Jahre kommend, war Podhoretz
mitsamt der von ihm herausgegebenen intellektuellen Zeitschrift
Commentary in kurzer Zeit zum äußersten rechten Rand der
US-amerikanischen Politik hinübergeschlittert. Viele Neokonservative
haben einen ähnlichen Lebenslauf hinter sich. Podhoretz ist immer noch
einer der scharfsinnigsten Analytiker und Theoretiker des
Neokonservativismus. Seine bald elf Jahre alte »Grabrede« kann als
Beispiel dafür gelten.
»Der Neokonservativismus ist tot«, verkündete Podhoretz zu Beginn
seines Vortrages provokativ zugespitzt. Um diese These zu begründen,
ließ er zunächst die Entwicklungsgeschichte der Neocons seit Ende der
sechziger Jahre kurz Revue passieren. Konstituiert hatte sich die
Strömung ursprünglich aus Liberalen und aus Linken, die sich der
Demokratischen Partei verbunden fühlten, vielfach auch sehr aktiv für
diese tätig waren. Innen- und außenpolitische Gründe hatten sie dann
veranlaßt, sich zunächst auf den äußersten rechten Flügel der
Demokraten zu konzentrieren und etwas später, überwiegend in der Mitte
der siebziger Jahre, zu den Republikanern zu wechseln.
Was waren die wesentlichen Punkte, in denen sich in der damaligen
Konstituierungsphase die Neokonservativen vom traditionellen
Konservativismus, wie ihn vor allem die Republikanische Partei
repräsentiert, unterschieden, fragte Podhoretz sodann in seinem
Vortrag. Folgende Differenzen hob er als wesentlich hervor: Die
Neokonservativen teilten erstens, aufgrund ihrer persönlichen Herkunft
aus der Linken, der Arbeiterbewegung oder der Demokratischen Partei,
nicht die totale Ablehnung des Sozialstaats durch den herkömmlichen
Konservativismus und die Republikaner. Und während diese den
Gewerkschaften insgesamt feindlich gegenüberstehen und sie für völlig
überflüssig halten, bewahrten die Neokonservativen zunächst ein
positives Verhältnis zu den Gewerkschaften, insbesondere zu deren
antikommunistischem und antisowjetischem Flügel. Zweitens waren die
Neokonservativen, oft schon in ihrer mehr oder weniger linksradikalen
Vergangenheit, von äußerster Feindseligkeit gegen die Sowjetunion
erfüllt. Ihre diesbezüglichen Positionen waren sehr viel aggressiver
als die des republikanischen Mainstreams. Sie übernahmen deshalb in den
siebziger Jahren, wie Podhoretz in seinem Vortrag sagte, »die Führung
beim Auftreten gegen die Illusionen der Rüstungskontrolle und für eine
stärkere nationale Verteidigung angesichts der großen
Aufrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion«. Ein drittes zentrales Motiv für
die Formierung der Neokonservativen war laut Podhoretz ihre Opposition
gegen die vor allem von der Studentenbewegung der sechziger Jahre
geprägte »Gegenkultur«, vor der damals die Demokratische Partei und die
ihr nahestehenden Medien »kapituliert« hätten.
Podhoretz zog in seiner »Grabrede« das Fazit: »Betrachtet man nun diese
Liste von Dingen, die den Neokonservativismus damals neu und anders
machten, so wird offensichtlich, daß er nicht mehr länger als neues,
besonderes Phänomen existiert, das einen eigenen Namen verdient.« So
gebe es beispielsweise keinen nennenswerten Unterschied mehr zwischen
alten Konservativen und Neocons in der absoluten Ablehnung des
Sozialstaats. In Grundfragen der Außenpolitik und der Verteidigung
traditioneller Werte gegen die »Gegenkultur« hätten sich die
Neokonservativen weitgehend durchgesetzt; ihre Auffassungen seien
nunmehr konservativer, republikanischer Mainstream. Auf der anderen
Seite, so Podhoretz weiter, gebe es zu vielen neu aufgetauchten
außenpolitischen Problemen keine einheitliche Linie der
Neokonservativen mehr. »Es ist unmöglich geworden, eine neokonservative
Position zu, sagen wir beispielsweise, Bosnien oder zur Frage der
NATO-Erweiterung oder zum Umgang mit China zu definieren. Früher hätte
ich Ihnen mit großer Sicherheit sagen können, wo jeder beliebige
Neokonservative zu fast allen ernsthaften Themen der Weltpolitik stand.
Heute hingegen würde es mich schwer ankommen, vorauszusagen, wo selbst
einige meiner engsten Freunde stehen, wenn es um ein problematisches
Thema wie Bosnien geht.«
Neuorientierung nach 1991
Podhoretz bezog sich damit auf die Tatsache, daß den Neokonservativen
mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des von ihr geführten
»sozialistischen Lagers« das ganz große Thema abhanden gekommen war,
mit dem man gut 20 Jahre lang die eigenen Reihen zusammengehalten
hatte. An die Stelle des vereinheitlichenden Zentralthemas war zu
dieser Zeit noch kein neuer außenpolitischer Konsens der
neokonservativen Strömung getreten.
An seine Bestandsaufnahme schloß Podhoretz das Fazit an: Die
bestehenden Unterschiede zum traditionellen Konservativismus reichten
nicht aus, »um den Neokonservativismus ins Leben zurückzurufen. (...)
Ich habe gute Gründen, sein Hinscheiden zu betrauern. Und doch muß ich
gestehen, daß mir sein Tod mehr ein Anlaß zum Feiern als für
Traurigkeit zu sein scheint. Denn was den Neokonservativismus
umgebracht hat, war keine Niederlage, sondern ein Sieg. Er starb nicht
an seinem Versagen, sondern an seinem Erfolg.«
Das konnte 1996, im Rückblick auf den Triumph der USA im Kalten Krieg
über die Sowjetunion, an dem die Neokonservativen erheblichen Anteil
hatten, mit einigem Recht so formuliert werden. Auf die heutige
Situation hingegen ließe sich dieses Fazit nicht ziehen. Und doch
können die Neocons in der Krise, in der sie schon seit Sommer 2003
stecken, zweierlei zu ihren Gunsten konstatieren: Erstens will derzeit
niemand die mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak geschaffenen
Fakten rückgängig machen. Selbst die führenden Politiker der Demokraten
sprechen sich, wenn auch verklausuliert, dafür aus, beide Kriege auf
unbegrenzte Zeit fortzusetzen, nämlich bis zu einem »Erfolg«. An der
Richtung, in der die Neokonservativen die Entwicklung im gesamten Nahen
und Mittleren Osten angeschoben haben, wird sich also in absehbarer
Zeit nichts ändern. Der Clash of Civilizations (Kampf der Kulturen) als
sich selbst erfüllende Prophezeitung hat bereit eine beträchtliche
Eigendynamik aufgebaut. Zweitens lagen zentrale außenpolitische
Anliegen der Neokonservativen schon in den neunziger Jahren keineswegs
so weit entfernt vom politischen Mainstream, wie es angesichts mancher
exzentrischer Äußerungen scheinen konnte. Dem Überfall auf den
Irak-Krieg 2003 beispielsweise hatte vorab die Mehrheit der
demokratischen Abgeordneten und Senatoren in Form eines
Kriegsermächtigungsgesetzes zugestimmt. Führende Politiker der
Demokraten wie Hillary Clinton – möglicherweise
Präsidentschaftskandidatin in zwei Jahren – und John F. Kerry –
Wahlgegner von Bush vor zwei Jahren – halten auch im Rückblick an ihrem
Ja zum Krieg fest. Beim Aufbau eines Kriegsszenarios gegen den Iran
herrscht eine große Koalition zwischen Republikanern und Demokraten.
Wenige Monate nach der »Grabrede« von Podhoretz veröffentlichten zwei
prominente Neocons, William Kristol und Robert Kagan, im Sommer 1996
einen programmatischen Text unter dem Titel »Toward a Neo-Reaganite
Foreign Policy« (Für eine neo-reaganistische Außenpolitik). Die
Präsidentschaft Ronald Reagans (1981–1989) gilt den Neocons bis heute
als goldenes Zeitalter. Der Aufsatz von Kristol und Kagan wurde zum
Signal einer Wiederbelebung und Neuorientierung des
Neokonservativismus. Am 26. Januar 1998 forderten zahlreiche führende
Neocons und andere Republikaner in einem offenen Brief an Präsident
William Clinton erstmals den Einsatz militärischer Gewalt zum Sturz
Saddam Husseins. Die Neokonservativen hatten ihr neues Zentralthema
gefunden, das sie nach dem 11. September 2001 zum »Weltkrieg« gegen den
»Islamofaschismus« ausweiteten.
Teil II: Stichwortgeber
Ihr unfreiwilliger Rückzug aus dem Bush-Regierungsapparat ermöglicht
ihnen ein Dirigieren des US-Präsidenten, ohne ihn wahlwirksam zu
kompromittieren
Zum Jahresende scheidet John Bolton, der Botschafter der USA bei den
Vereinten Nationen, aus dem Amt. Er ist einer der letzten
Neokonservativen, die sich noch in einem einflußreichen Amt befinden.
George W. Bush und Condoleezza Rice hatten Bolton als rücksichtslosen
Hardliner und notorischen Verächter der UNO für den richtigen Mann
gehalten, um den Führungsanspruch der USA in der Weltorganisation
durchzusetzen.
Nicht allen leuchteten diese Vorzüge Boltons ein. Im Senat, der der
Ernennung zustimmen mußte, äußerten nicht nur die oppositionellen
Demokraten, sondern auch mehrere republikanische Parlamentarier schwere
Bedenken gegen den Kandidaten. Am 7. März 2005 hatte Bush dem Senat die
Ernennung vorgeschlagen, aber das Hohe Haus ging ohne Entscheidung in
die Sommerpause. Der Präsident nutzte diese Zeit, um Bolton am 1.
August 2005 zum UN-Botschafter zu machen. Rechtlich geht das. Diese
Ernennung erlischt aber mit dem Ende der Amtszeit des Senats im Januar
2007, sofern sie bis dahin nicht bestätigt wird.
Nach der für die Republikaner unglücklich verlaufenen Kongreßwahl vom
7. November kündigte Bush zunächst an, er werde Boltons Ernennung noch
während der Amtszeit des alten Senats, in dem die Republikaner die
Mehrheit haben, erneut zur Abstimmung stellen. Die Demokraten
antworteten mit der Ankündigung, sie würden eine Bestätigung Boltons
auf die gleiche Weise wie im Sommer verhindern. Indem sie damit drohen,
die Debatte endlos in die Länge zu ziehen und dadurch den Senat
lahmzulegen. 60 von 100 Senatoren wären nötig, um diese Taktik zu
durchkreuzen und eine sofortige Abstimmung zu erzwingen. Offenbar
wollte Bolton es aber darauf nicht mehr ankommen lassen, wie das Weiße
Haus am 4. Dezember mitteilte.
Der wichtigste »überlebende« Neokonservative in einem Regierungsamt ist
jetzt der 58jährige Elliot Abrams. Auf seinen Schultern ruhen, wie es
das Magazin Newsweek am 4. Dezember ausdrückte, die Hoffnungen aller
Neocons. Abrams ist seit Februar 2005 stellvertretender Nationaler
Sicherheitsberater. Er ist der wichtigste Berater des Präsidenten für
die Nahostpolitik und häufiger Begleiter von Außenministerin Rice auf
ihren Reisen in der Region, beispielsweise während des Libanon-Krieges.
Als wandelnder Affront verkörpert und demonstriert er die absolute
Einseitigkeit der US-Regierung in allen israelisch-arabischen
Konflikten.
Abrams begann seine Karriere in den frühen achtziger Jahren unter
Präsident Ronald Reagan. Damals war er im Außenministerium zunächst
Unterstaatssekretär für Menschenrechte und anschließend für
interamerikanische Angelegenheiten, also für die Beziehungen zu den
Staaten Mittel- und Südamerikas. In beiden Funktionen soll er, so die
Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und
Amnesty International, immer wieder Verbrechen der Militärs in El
Salvador, Honduras und Guatemala sowie der Contras in Nicaragua gedeckt
und beschönigt haben.
Weniger bekannt als Abrams ist ein weiterer »überlebender« Neocon,
David Wurmser. Er ist Nahostberater von Vizepräsident Dick Cheney.
Zuvor war er Sonderassistent von John Bolton, als dieser noch im
Außenministerium tätig war. Wurmser gehörte, ebenso seine Frau Meyrav,
im Jahr 1996 zu dem vom Vordenker der Neokonservativen, Richard Perle,
geleiteten Team, das für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin
Netanjahu vom rechten Flügel des Likud-Blocks das berühmt gewordene
Strategiepapier »A Clean Break« (Ein sauberer Abbruch) verfaßte.
Zentrale Vorschläge waren der Abbruch des Friedensprozesses mit den
Palästinensern und der Sturz Saddam Husseins.
Ein weiteres Mitglied dieser Arbeitsgruppe war Douglas Feith, der von
Juli 2001 bis August 2005 Staatssekretär für Politik im Pentagon war.
Neokonservativismus ohne Neocons
Bleiben also von den Positionen, die die Neokonservativen unter der
Präsidentschaft von George W. Bush gewonnen hatten, im wesentlichen nur
noch zwei übrig? Abrams und Wurmser? Dagegen läßt sich einiges
einwenden. Beispielsweise, daß es kaum möglich ist, die frühere
Sicherheitsberaterin und jetzige Außenministerin Condoleezza Rice noch
von einer Neokonservativen zu unterscheiden, auch wenn sie ursprünglich
in einer anderen Seilschaft war, nämlich in der der »Realisten«, die
1989–1993 unter dem der Vater des jetzigen Präsidenten tonangebend
waren. Rices Äußerungen während der israelischen Luftangriffe auf den
Libanon im Sommer dieses Jahres – das seien »die Geburtswehen eines
neuen Nahen Osten« – weisen sie eindeutig als Anhängerin
neokonservativer Vorstellungen aus, bei denen der angeblich gute Zweck
auch große Menschenopfer rechtfertigt, ja geradezu erfordert.
Ein ganz sicherer Verbündeter der Neokonservativen in der Regierung ist
Vizepräsident Dick Cheney, der gleichfalls zu den »Realisten« gehörte.
Unter Bush senior war er Verteidigungsminister. 1997 gründete er
zusammen mit zahlreichen namhaften Neokonservativen das Project for the
New American Century. Daß Cheney im allgemeinen nicht als Neocon gilt,
ist sachlich nicht zu begründen.
Und der Präsident selbst? William Kristol, Herausgeber des Weekly
Standard und Sohn des Neocon-Urvaters Irving Kristol, formulierte es
jüngst etwas überschwenglich und vereinnahmend: »Ich glaube, Bush ist
der letzte Neocon an der Macht.« Diese Aussage ist von der Gewißheit
getragen, daß es den Neokonservativen nach dem 11. September 2001
gelungen ist, den außenpolitisch ebenso unerfahrenen wie unsicheren
Bush für ihre Strategie einzuspannen. Die Bush-Doktrin, deren Kern
schon in der ersten Kongreßrede des Präsidenten nach dem Anschlag,
gehalten am 20. September 2001, entwickelt wurde, zeugt davon: »Wir
werden Staaten verfolgen, die den Terroristen Hilfe oder Unterschlupf
gewähren. Jede Nation in jeder Region muß nun eine Entscheidung
treffen. Entweder sind sie auf unserer Seite oder auf der Seite der
Terroristen. Von diesem Tage an wird jeder Staat, der weiterhin
Terroristen unterstützt oder ihnen Unterschlupf gewährt, von den USA
als feindliches Regime betrachtet.«
Die Bush-Doktrin fand ihre Fortsetzung in der Rede des Präsidenten zur
Lage der Nation am 29. Januar 2002. Den Text hatte weitgehend der
neokonservative Präsidentenberater David Frum geschrieben. Von ihm
stammt auch der Begriff »Achse des Bösen«, mit dem Bush in seiner Rede
Irak, Iran und Nordkorea bezeichnete. In dieser Rede kündigte Bush an:
»Ich werde nicht auf die Ereignisse warten, während sich Gefahren
zusammenballen. Ich werde nicht ruhig danebenstehen, während das
Verderben immer näher kommt. Die Vereinigten Staaten werden es den
gefährlichsten Regimes der Welt nicht gestatten, uns mit den
zerstörerischsten Waffen der Welt zu bedrohen.« Die seit der
Kongreßwahl vom 7. November geführten Diskussionen über eine »neue
Strategie« im Irak bestätigen, daß Präsident Bush im wesentlichen
weiter der von den Neokonservativen angeschobenen Politik folgt, auch
wenn es sich dabei in personeller Hinsicht immer mehr um einen
Neokonservativismus ohne Neokonservative handelt.
»Fürst der Finsternis« geht von Bord
Tatsache ist, daß die Neocons inzwischen viele wichtige Posten im
Regierungsapparat verloren haben. Den Anfang machte die langjährige
»graue Eminenz« des Neokonservativismus, Richard Perle, der seit seiner
Arbeit für die Reagan-Regierung den Spitznamen »Prince of Darkness«
trägt. Kurz nach Beginn des Irak-Krieges mußte Perle Ende März 2003
seinen Rücktritt als Vorsitzender des Defense Advisory Board, einer
hochrangig besetzten Beraterrunde des Pentagon, erklären. Mit diesem
Schritt versuchte Perle, der von Kongreßabgeordneten der Demokraten
geforderten Untersuchung seiner Geschäftsbeziehungen zu entgehen. Die
Mitglieder des Defense Advisory Board haben zwar kein offizielles Amt,
aber einen ähnlichen Status, der sie zur Einhaltung bestimmter Regeln
verpflichtet. Diese sollen die Vermischung politischer
Einflußmöglichkeiten mit Geschäftsinteressen verhindern. Dagegen hatte
Perle massiv verstoßen.
Aber auch politisch hatte er sich in Mißkredit gebracht. Für Aufsehen
hatte besonders ein Referat gesorgt, das auf Einladung Perles im Juli
2002 auf einer Sitzung des Defence Policy Board gehalten wurde. Die
Sitzungen des Beratungsgremiums sind nicht öffentlich, ihr Inhalt muß
von den Teilnehmern streng vertraulich behandelt werden. In diesem Fall
aber wurden der Washington Post gezielt Informationen zugespielt, über
die das Blatt am 6. und 7. August 2002 berichtete. Laurent Murawiec,
ein Analyst des konservativen Think Tanks Rand, hatte in seinem Referat
Saudiarabien als »Kern des Übels« und »gefährlichsten Gegenspieler« der
USA im Nahen Osten bezeichnet. Er forderte, die USA sollten dem
saudischen Regime ein umfassendes Ultimatum stellen – u.a. Einstellung
der Unterstützung fundamentalistischer Institutionen in aller Welt,
Verzicht auf antiamerikanische, antiisraelische und antiwestliche
Stellungnahmen – und bei Nichtbefolgung die saudiarabischen Ölquellen
besetzen sowie die Geldanlagen der Saudis im Ausland beschlagnahmen.
Der Skandal, den dieser Vorgang auslöste, weist auf eine Bruchstelle
zwischen Teilen der Neocons und der offiziellen Regierungspolitik der
USA hin: Die Bush-Familie ist über Ölinteressen mit Saudiarabien eng
verbunden, die Beziehungen zu den Saudis stehen nicht zur Disposition.
Die Bedeutung des auf der arabischen Halbinsel gelegenen Landes als
eine Hauptstütze der amerikanischen Nahostpolitik hat aufgrund der
Krisen, in die sich die Bush-Regierung selbst hineinmanövriert hat, in
den letzten Jahren sogar noch erheblich zugenommen. Vor allem als
Gegengewicht gegen den Iran sowie die irakischen und libanesischen
Schiiten soll das sunnitisch-fundamentalistische Saudiregime ins Spiel
gebracht werden, wofür es mit dem ganz und gar falschen Titel
»gemäßigt« geadelt wird.
Im Februar 2004 zog sich Richard Perle aus dem Defense Policy Board,
dem er 17 Jahre lang angehört hatte, ganz zurück. In einem Brief an
Verteidigungsminister Rumsfeld begründete er seine Entscheidung damit,
daß er im Wahljahr mit seinen »kontroversen« Ansichten keine Belastung
für den Präsidenten darstellen wolle. Er wolle sich mit seinem Rückzug
auch die Freiheit bewahren, seine Ansichten weiter zu verkünden, ohne
daß diese in den Präsidentschaftswahlkampf hineingezogen werden könnten.
Krise als Chance
Das kann man auch als Schlüsselsatz nehmen, um den widersprüchlichen
Charakter der Krise zu verstehen, in der sich die Neokonservativen
schon seit dem Sommer 2003 befinden. Damals wurde deutlich, daß der
Irak-Krieg alles andere als ein cakewalk als ein Kinderspiel werden
würde, als den ihn der Neokonservative Kenneth Adelman ein Jahr zuvor
angepriesen hatte. Auch die Prophezeiung von Richard Perle, die
US-Truppen würden von den Irakern mit Blumen und süßem Gebäck als
Befreier empfangen werden, hatte sich nicht erfüllt.
Darüber hinaus hatten sich die Neocons nicht mit ihrer Forderung
durchgesetzt, den Enthusiasmus der US-amerikanischen Öffentlichkeit
über den scheinbar schnellen Sieg im Irak zu nutzen, um aus der
Mobilisierung der Streitkräfte heraus sofort anschließend auch Syrien
und Iran anzugreifen. Anstelle der von den Neocons gepredigten
Strategie permanenter militärischer Alleingänge traten diplomatische
Bemühungen, um in kommende weitere Kriege die NATO-Partner, aber auch
den UNO-Sicherheitsrat von vornherein stärker einzubinden. Das
widersprach der Vorstellung der meisten Neokonservativen, das »alte
Europa« (also vor allem Frankreich und Deutschland) außenpolitisch zu
isolieren und die UNO künftig ganz zu ignorieren.
Richard Perles monatelanges Abtauchen aus der großen Politik nach
seinem politischen und ökonomischen Mißgriffen im März 2003 war nicht
nur Ergebnis der Tatsache, daß er beim Geldabgreifen erwischt worden
war, sondern weist auch auf ein generelles Problem der Neocons hin: Sie
haben in den letzten zehn Jahren, und ganz besonders seit dem 11.
September, eine glänzend organisierte, sehr effektive Politik
betrieben. Damit haben sie aber auch zwangsläufig viel Aufmerksamkeit
auf ihr Netzwerk gezogen – mehr als ihnen selbst lieb sein kann. Sie
haben sich einen Ruf als hemmungslose Kriegstreiber erworben, und die
meisten Lügen, mit denen der zweite Irak-Krieg vorbereitet wurde,
lassen sich eindeutig auf neokonservative Verbreiter zurückführen. Mehr
noch, man erinnert sich in diesem Zusammenhang, daß die Neocons auch
schon bei der Anbahnung des ersten Irak-Krieges von 1991 eine
maßgebliche Rolle spielten.«
Vor diesem Hintergrund enthielt die Entfernung aus Regierungsämtern und
der damit einhergehende scheinbare Machtverlust für die
Neokonservativen auch die Chance, ohne den Ballast taktischer
Rücksichtsnahmen die Politik der Bush-Administration ganz offen von
rechtsaußen zu kritisieren und ihre eigenen, teilweise sehr
exzentrischen Vorstellungen vorzutragen, ohne dadurch unmittelbar die
Regierung zu kompromittieren.
Auf den Rücktritt von Richard Perle folgten, um nur die wichtigsten zu
nennen: Der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, der
im Januar 2005 mit dem Posten des Weltbankpräsidenten abgefunden wurde;
Pentagon-Unterstaatssekretär Douglas Feith, der im August 2005 gehen
mußte; und schließlich im Oktober 2005 Vizepräsident Cheneys Stabschef
Lewis Libby, der wegen seiner Verstrickung in die böswillige Enttarnung
einer CIA-Agentin unter Anklage gestellt wurde.
An Rückschläge gewöhnt
Wenn der Verlust von Regierungsmacht gleichbedeutend mit dem »Ende der
Neocons« wäre, von dem jetzt viel fabuliert wird, hätte man es
spätestens vor einem Jahr konstatieren müssen und nicht erst nach der
Kongreßwahl vom 7.November. Aber die nunmehr rund vierzigjährige
Geschichte des Neokonservativismus zeigt, daß diese Strömung am Verlust
von Regierungsmacht keineswegs zugrunde geht. Maßgebliche Neocons
befanden sich schon einmal, unter Ronald Reagan (1981–1989), im Zentrum
der Macht. Unter George Bush senior (1989–1993) waren nicht nur ihre
personelle Teilhabe an der Regierung, sondern vor allem auch ihre
politischen Gestaltungsmöglichkeiten sehr viel geringer als unter
Reagan. Und mit dem Amtsantritt von William Clinton am 20. Januar 1993
verloren die Neokonservativen für die folgenden acht Jahre vollständig
die direkte Teilhabe an der Regierungsmacht.
Umgebracht hat sie das nicht, wie sich im Rückblick zweifelsfrei
konstatieren läßt. Eher ist das Agieren aus der Opposition heraus eine
Stärke der Neocons. Denn es ermöglicht ihnen, wie in den
Clinton-Jahren, die Regierung permanent als »zu weich« anzugreifen und
damit an den latent aggressiven US-Patriotismus zu appellieren, ohne
den Praxisbeweis für das Funktionieren ihrer eigenen radikalen
Forderungen antreten zu müssen und Verantwortung für gescheiterte
Experimente zu tragen. In einer solchen Situation ist es für die
Neocons vergleichsweise leicht, die politisch-ideologische Hegemonie
über das gesamte rechte Lager, einschließlich der traditionellen
Konservativen und der christlichen Fundamentalisten, der sogenannten
Evangelikalen, zu erringen.
Die Evangelikalen stellen auch in Zukunft einen sicheren Rückhalt für
die Vorstellungen der Neokonservativen dar, jedenfalls soweit es um die
zentralen Punkte der Nahostpolitik geht. Denn dieses Lager, dem
zwischen 30 und 50 Millionen Wähler zugerechnet werden, reagiert
reflexartig, sobald angebliche Bedrohungen Israels beschworen werden,
um aggressive Handlungen zu rechtfertigen.
Ein ähnlich zuverlässiger Aktivposten für die Neocons ist die
Pro-Israel-Lobby, vertreten durch den American Israel Public Affairs
Committee und die größten jüdischen Organisationen der USA, die sich in
den neunziger Jahren zu Sprachrohren der israelischen Rechten
entwickelt haben, während sie früher parteipolitische Neutralität zu
wahren versuchten. Es ist, soweit es die zentralen Themen der
Nahostpolitik angeht, unmöglich, Unterschiede zwischen den
Neokonservativen und der Pro-Israel-Lobby auszumachen. Vor allem
hinsichtlich der nächsten anstehenden Aufgabe, der Erzwingung eines
»regime change«, eines Regierungswechsels im Iran, sind sie sich
absolut einig.
Ein weiterer Faktor, der den Einfluß der Neokonservativen auch künftig
sichert, sind die von ihnen maßgeblich beeinflußten Think Tanks –
darunter an erster Stelle das American Enterprise Institute (AEI), das
führend bei der Mitgestaltung der US-amerikanischen Regierungspolitik
ist. Die Liste der AEI-Autoren und -Referenten weist nach wie vor
zahlreiche prominente Neokonservative aus – unter ihnen Richard Perle,
David Frum, Irving Kristol und Michael Ledeen, der unermüdliche
Haßprediger gegen den Iran.
Auf zwei zentrale Themen konzentrieren sich derzeit die Aktivitäten der
Neokonservativen. Das eine Ziel besteht darin, jeden noch so
halbherzigen Schritt in Richtung Ausstieg aus dem Irak-Krieg zu
verhindern. Die Neocons sind daher führend in der Polemik gegen die
Vorschläge der Baker-Arbeitsgruppe. Ihr zweites Ziel besteht darin,
Bush während seiner Amtszeit, die im Januar 2009 ausläuft, zu
Militärschlägen gegen Iran zu veranlassen, um unabhängig vom Ausgang
der nächsten Präsidentschaftswahl irreparable Fakten zu schaffen. Ihre
Chancen, beide Ziele zu erreichen, stehen leider gut – auch dank der
komplizenhaften Haltung führender Politiker der Demokratischen Partei.