DER SPIEGEL 29/2003 - 14. Juli 2003
SPIEGEL: Herr Zadek, Sie haben über 40 Jahre lang einen großen Bogen um den Autor Bertolt Brecht gemacht, weil Sie mit seinem Lehr-Theater offenbar wenig anfangen konnten. Was hat Sie bewogen, nun die "Mutter Courage" zu inszenieren?
Zadek: Ich weiß nicht, ob Sie es gemerkt haben, aber wir hatten gerade einen Krieg, und mein Kopf hat sich sehr damit beschäftigt.
SPIEGEL: Gibt es nicht bessere Kriegsstücke von Dramatikern, die vielleicht bei Theaterleuten und Kritikern etwas mehr Ansehen genießen als der aufrechte Brecht?
Zadek: Welche denn? In deutscher Sprache haben wir noch "Wallenstein" und "Die Hermannschlacht", zwei aufgeblasene Stücke. "Mutter Courage" ist das einzig moderne Stück. Und es ist das einzige, das von der Natur des Krieges so erzählt, wie ich davon erzählen möchte: als ein Geschäftemachen mit anderen Mitteln.
SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch, einer locker intonierten Lehr-Fibel der Theaterregie, warnen Sie junge Regisseure vor Klugscheißern und Konzepthubern. Gehört nicht auch Brecht zu denen?
Zadek: Brecht ist ein Schriftsteller und kein Regisseur. Ich spreche in meinem Buch mit jungen Regisseuren und nicht mit Schriftstellern, und ich möchte auch nicht, dass sie sich für Schriftsteller halten. Das ist ja heute der große Fehler: Viele junge Regisseure benehmen sich so, als wären sie Schriftsteller. Sie übernehmen die Stücke und sagen: Da mach ich jetzt mein Stück daraus.
SPIEGEL: Machen Sie es wirklich so anders?
Zadek: Gut, ich nehme mir auch ein Stück und erzähle es auf meine Weise, aber ich gebe mir große Mühe erst mal rauszufinden, was der Autor sich gedacht hat. Diese erste Runde dauert bei einem großen Stück Monate. Wenn ich es weiß, dann gibt es Dinge, die ich anders machen will. Aber wenn ich ein ganzes Stück so umkrempeln müsste, dann würde ich es lieber nicht inszenieren.
ist einer der heraus-
SPIEGEL: "Mutter Courage" handelt von einer Marketenderin, die im Dreißigjährigen Krieg versucht, am Krieg zu verdienen und ihn zu überleben. Was genau hat das mit dem 21-Tage-Krieg im Irak zu tun, bei dem es um die gewaltsame Entfernung eines Despotenclans ging, der die eigene Bevölkerung quälte, Israel bedrohte und auf der zweitgrößten Ölquelle der Welt saß?
Peter Zadek
ragenden Regisseure des deutsch-
sprachigen Theaters. Er wurde 1926 in Berlin als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren; 1933 emigrierte die Familie nach Großbritannien, wo Zadek unter anderem Theaterregie studierte. Seit er 1958 in die Bundesrepublik übergesiedelt ist, hat Zadek mit oft umstrittenen Inszenierungen Furore gemacht: in Ulm und Bremen, Wien, Berlin und Hamburg, wo er von 1985 bis 1989 das Deutsche Schauspielhaus leitete. Zadek - auf dem Bild bei einem Festakt in Wien neben einem Porträtfoto von 1968 - lebt mit seiner Gefährtin, der Autorin Elisabeth Plessen, im italienischen Lucca und in Berlin.
Zadek: Wollten die USA etwa nicht die irakischen Ölquellen kontrollieren? Und handelte es sich nicht auch um Überleben? Was mich neben dem Geschäftemachen im Stück interessierte, war die Frage: Wie leben Menschen im Krieg? Was passiert mit der Moral der Leute? Wie stellen sie sich darauf ein, sich selber zu retten? Ich habe das selbst erlebt, als wir während des Zweiten Weltkriegs nach London emigriert waren. Damals fiel eine Bombe in unseren Garten. Sie explodierte nicht und verschwand einfach im Boden, aber sie konnte auch nicht entschärft werden. Wir mussten nach Oxford umziehen. Die Leute im Krieg versuchen ganz opportunistisch, sich selbst in Sicherheit zu bringen.
SPIEGEL: Für Mutter Courage ist der Krieg eine Art ungeliebte Heimat und Geschäftsgrundlage; sie ist regelrecht verzweifelt, als einmal für kurze Zeit der Frieden ausgerufen wird. Was verbindet diese Figur Ihrer Meinung nach mit den Irakern von heute, die einen gewiss schlimmen, aber kurzen Krieg erleben mussten?
Zadek: Der Irak-Krieg ist noch lange nicht zu Ende. Er hat gerade erst begonnen. Für Amerika wird er ein neues Vietnam werden. Ich stimme meinem alten Freund Harold Pinter zu, dessen Antikriegsgedichte "War" Elisabeth Plessen und ich gerade übersetzt haben - erscheinen übrigens demnächst. Pinter sagt, die Amerikaner seien heute mit den Nazis zu vergleichen. Der Unterschied besteht darin, dass die Nazis vorhatten, Europa zu besiegen; die Amerikaner aber wollen die ganze Welt besiegen.
SPIEGEL: Die Gleichsetzung von Amerikanern und Nazis finden wir aberwitzig. Gestehen Sie den US-Politikern nicht mal zu, dass sie sich, bei aller Machtgier, den Idealen der Freiheit und des Individualismus verpflichtet fühlen?
Zadek: Die Nationalsozialisten hatten auch ihren Idealismus und glaubten, immer das Richtige zu machen.
SPIEGEL: Weinen Sie den Terrorherrschern in Afghanistan und im Irak wirklich Tränen nach?
Zadek: Krieg erzeugt - wie jede Aggression - irgendwann einen Gegenschlag. Manchmal lässt er auf sich warten, deshalb haben Sie auf die Kürze vielleicht Recht. Wie schön: Saddam Hussein ist weg! Aber der ist natürlich nicht weg, und die Leute, die an ihn glauben, sind auch nicht weg. Es gibt in der ganzen Welt eine große Gegenbewegung zu Amerika, und sie wird zunehmen. Leider gehören wir als Macht des Westens zu den Kräften, die den Zorn gegen Amerika ebenfalls auf sich ziehen. Wir werden immer verhasster.
"Ich mache die Klappe auf - in der Hoffnung, dass es geistigen Widerstand gibt."
SPIEGEL: Sie halten allen Ernstes George W. Bush für einen gefährlicheren Mann, als Saddam es war?
Zadek: Ja. Man kann es nicht machen wie der Autor Peter Schneider, der noch in seinen 68er-Kinderschuhen steckt, in seinem SPIEGEL-Essay: Der will auf beiden Seiten stehen und hat vor allem Angst, es sich mit den Amerikanern zu verderben. "Der Krieg gegen den irakischen Diktator ist nicht nur schnell, sondern auch erstaunlich unblutig gewonnen worden"- so beschreibt ein deutscher Dichter die Tausende Opfer und den zerstörten Irak.
SPIEGEL: Wie lautet Ihre Beschreibung?
Zadek: Amerika hat mit dem Irak-Krieg der Welt gezeigt, dass es in Zukunft solche Präventivkriege öfter führen will. Es ist das einzige Land mit genug Massenvernichtungswaffen, um das zu tun; ein Empire, das sich allen Kontrakten entzieht. Ich bin nicht groß oder tapfer genug, dagegen anzugehen. Aber ich bedauere sehr, dass wir solch einer Mafia ausgeliefert sind. Einem Herrn Wolfowitz zum Beispiel, der auch noch offen sagt, dass die Argumente, mit denen dieser Krieg begründet wurde, gelogen waren. Ich glaube nicht daran, dass es im Irak Massenvernichtungswaffen gab. Wenn ich Saddam Hussein wäre, dann hätte ich diese Waffen garantiert benutzt.
SPIEGEL: Sie sagen, Sie seien nicht tapfer genug zum Widerstand gegen die USA - welchen Zweck verfolgen dann Ihre verbalen Attacken?
Zadek: Natürlich könnten wir sagen: Wir können sowieso nichts dagegen machen, also lass uns bei der Kultur bleiben und bei unserem Theater. Aber ich bin dafür, die Klappe aufzumachen - in der Hoffnung, dass es immer irgendwo wenigstens einen geistigen Widerstand gibt gegen diese Scheiße, die auch eine Kulturscheiße ist.
SPIEGEL: Heißt das, Sie lehnen die amerikanische Kultur grundsätzlich ab?
Zadek: Nein, in den Fünfzigern waren amerikanische Schriftsteller und Regisseure meine Helden. Tennessee Williams zum Beispiel oder Elia Kazan. Aber dann siegte das Musical über das Theater, und aus Hollywood kam nur noch schreckliches Zeug.
SPIEGEL: Haben Sie in den USA selbst auch nur negative Erfahrungen gemacht?
Zadek: Ich war nie dort. Mir ist Amerika zutiefst zuwider, auch wenn ich natürlich ein paar amerikanische Freunde habe. Ich kritisiere nichts, was ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Ich kritisiere das, was die Amerikaner mit der Welt tun.
SPIEGEL: Sehen Sie sich amerikanische Filme an?
Zadek: Selten. Zuletzt habe ich "About Schmidt" gesehen - grauenhaft: dieser gewalttätige Pseudohumor, der in Wahrheit totale Humorlosigkeit ist. "American Beauty" war der reine Kitsch. "Bowling for Columbine" ist nett, aber rennt letztlich offene Türen ein. Gut fand ich nur "Far from Heaven", und der ist eine Hommage an Douglas Sirk, einen Europäer. Ich bin nun mal ein Europäer.
Zum SPIEGEL-Gespräch lud Zadek die Redakteure Wolfgang Höbel, 41, und Thomas Hüetlin, 42, auf seinen Landsitz in der Nähe des toskanischen Lucca. Er empfing die Gäste wie ein Imperator auf einem weiß getünchten Balkon stehend und gab sich auch im Lauf des Gesprächs als wenig geduldiger Deuter der Theater- und Weltlage: Während der höchst kontroversen Diskussion über die "schrecklichen Amerikaner" (Zadek) sahen sich die SPIEGEL-Leute bereits am Rand einer unfreundlichen Zwangsverabschiedung ("Ich könnte Sie hier sofort rausschmeißen"), doch schließlich lud Zadek höflich zu einem Imbiss und bat: "Bitte beschreiben Sie mich nicht als elitären Eremiten."
SPIEGEL: Heißt das, Sie treten gern an im Kampf altes Europa gegen neues Amerika?
Zadek: Bei diesem Kulturkampf bin ich dabei. Ich war sofort dafür, als Rumsfeld das gesagt hat mit dem alten Europa. Endlich hat es einer ausgesprochen. Schade, dass wir es nicht waren. Denn peinlich ist doch nur der Minderwertigkeitskomplex, den wir Europäer noch immer haben. Gerhard Schröder müsste nicht darauf warten, dass ihm ein Bush die Hand schüttelt. Bush muss froh sein, dass er Schröder die Hand schütteln darf.
SPIEGEL: Man tut Ihnen also kein Unrecht, wenn man Sie einen Anti-Amerikaner nennt?
Zadek: Nein. Ich finde es feige, dass viele Leute heute einen Unterschied machen zwischen dem amerikanischen Volk und der gegenwärtigen amerikanischen Regierung. Die Regierung Bush ist mehr oder weniger demokratisch gewählt worden, und sie hatte bei ihrem Feldzug im Irak die Mehrheit der Amerikaner hinter sich. Man darf also durchaus gegen die Amerikaner sein, so wie im Zweiten Weltkrieg der größte Teil der Welt gegen die Deutschen war. In diesem Sinne bin ich Anti-Amerikaner.
SPIEGEL: Halten Sie auch die kriegerische Beteiligung der Amerikaner im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler für falsch?
Zadek: Auch dieser Krieg hätte nicht stattfinden dürfen. Krieg produziert im Endeffekt nur Katastrophen. Diese Haltung habe ich vertreten, seit ich 18 war. Das war am Ende des Zweiten Weltkriegs, und ich habe damit nur Feinde gehabt, auch unter meinen jüdischen Freunden, als ich sagte: "Diesen Krieg so wenig wie jeden anderen." Nach den 60 Millionen Toten fühlte ich mich gewissermaßen gerechtfertigt.
SPIEGEL: Hätten Sie Hitler, seine Mordbanden und KZ-Schergen durch Lichterketten beseitigen wollen?
Zadek: Es ist immer dieselbe Frage: Durch was entsteht Krieg? Krieg entsteht dadurch, dass Leute nicht mehr im Stande sind, miteinander zu reden. Alle Leute haben Interessen. Und mit diesen Interessen kann man umgehen, solange man die Nerven und die Geduld dazu hat.
SPIEGEL: Sie leugnen, dass angesichts des Terrors von Hitler und Saddam die Devise gelten muss, dass ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende?
"Ich würde auch ein Schwein auf die Bühne holen, wenn die Leute das sehen wollen."
Zadek: Ein wunderbares Klischee! Das würde bedeuten, dass man überhaupt nicht mehr mit Menschen verhandelt. Dann könnte ich Sie hier sofort hinausschmeißen und Ihnen mit der Kaffeekanne über den Kopf schlagen. Das ist Ihre Logik. Sie sitzen hier und sagen lauter Sachen, mit denen ich nicht einverstanden bin, all die abgeleierten, blöden Sachen, die ich tausendmal gelesen habe - muss ich da nicht sofort ein Ende mit Schrecken machen?
SPIEGEL: Sie sagen das freundlich, sind aber ganz schön wütend. Gleich schreien Sie.
Zadek: Nein, nie. Mein ganzes Buch, über das wir hier eigentlich reden wollten, erzählt davon, wie man sich durchsetzt, ohne zu schreien, wie man seine Phantasie trotzdem verwirklicht.
SPIEGEL: Und doch gibt es eine Anekdote, wonach Sie bei Ihren ersten Arbeiten im deutschen Theater Ende der Fünfziger erst mal das Schreien lernen mussten.
Zadek: Damals habe ich in Köln inszeniert. Ein Schauspieler hatte sich beim Intendanten über mich beschwert: Der redet nie bei den Proben, wir wollen einen richtigen Regisseur. Was sollte ich machen? In dieser Lage riet mir ein Freund: Wenn du morgen ins Theater gehst, dann schreist du den Ersten, den du siehst, einfach an. Der Erste, der mir über den Weg lief, war der Inspizient. Ich habe ihn angebrüllt. Das war mir sehr peinlich, aber es hat wunderbar funktioniert. Seitdem hört man mir zu.
SPIEGEL: Auch ohne Gebrüll?
Zadek: Ja. In meinem Beruf sollte man sowieso lieber zuhören als reden. Ich finde wichtig, dass Regisseure lernen, auf Schauspieler zu hören. Als ich 1958 nach Deutschland kam, waren Schauspieler Leute, die man von rechts nach links schickte und denen man sagte: "Jetzt bitte die rechte Hand heben und am Ohr kratzen." Heute haben sie ein anderes Selbstverständnis, und das ist gut so. Ich finde, man sollte mit Schauspielern reden, damit sie ihre Echtheit - und sie besitzen bei aller Verstellung auch immer einen Rest Echtheit - für die Rolle nutzen. Das ist interessanter als jedes Konzepttheater und dessen billige Klugscheißerei.
SPIEGEL: Was finden Sie falsch daran, dass ein Regisseur eine klare Haltung zu einem Stück und seinen Figuren zeigt?
Zadek: Nehmen Sie die Mutter Courage: Ich kann die so darstellen, dass sie das letzte Arschloch ist, ein widerlicher Schwächling oder ein armes Opfer; all das ist gar nicht schwierig. Das hätte mich aber alles nicht interessiert. Ich habe das Stück nur deshalb gemacht, weil ich Angela Winkler hatte. Einen Menschen, der so zart und so feminin und so, sagen wir, normal ist wie sie, der auch selbst so eine starke Empfindung für seine Kinder hat. Ich wollte wissen: Was passiert mit ihr, wenn sie einen Krieg erlebt? Wie verhält die sich? Das war für mich bei den Proben Tag für Tag spannend. Angela ist wie Mutter Courage eine Frau, die nie aufgibt. Trotz der Schrecklichkeit unseres Theaters gibt sie nie auf.
SPIEGEL: Worüber klagen Sie? Sie arbeiten nur mit den allerbesten Schauspielern, die Sie in Wien, Hamburg oder Berlin zusammenrufen, und bekommen von den Theatern die tollsten Bedingungen erfüllt. Der reine Luxus.
Zadek: Unsinn. Das hat mit Luxus nichts zu tun. Luxus wäre es, Bühnenbilder zu bauen, die mit Goldlamé ausgehängt sind. Aber Theater herzustellen, in dem der Zuschauer das Maximale von Schauspielern erwarten kann, ist kein Luxus. Ich bin nicht einmal besonders teuer für die Theater.
SPIEGEL: Ihre Schauspieler, die oft als Gäste geholt werden, mitunter schon. Außerdem legen Sie ein Haus oft für ein halbes Jahr lahm, wenn Sie dort arbeiten. Warum?
Zadek: Sie nennen es lahm legen, ich nenne es aufwecken. Das hat nicht mit Geld, sondern mit Konzentration zu tun. Die Schauspieler, die bei mir arbeiten, dürfen nur bei mir proben und nicht auch noch für andere Stücke. Natürlich bin ich für ein Theater anstrengend. Aber nicht aus einem oberflächlichen Luxusgrund, sondern weil ich weiß, was ich will - und mittlerweile nur antrete zu einer Arbeit, wenn ich weiß, dass ich in etwa das erreichen kann, was ich mir vorgestellt habe.
SPIEGEL: Verglichen mit der Zeit, in der Sie als Regisseur anfingen, hat das Theater an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. Woran liegt das?
Zadek: Ich glaube, das Interesse am Theater folgt einer Kurvenbewegung. Im Moment haben die Leute andere Probleme. Aber Theater kommt wieder. Es bleibt die einzige direkte Kommunikation in der Kunst zwischen Menschen, und es hat eine Wirkung.
SPIEGEL: Welche?
Zadek: Keine schnelle. Wenn mir heute eine Frau in Berlin entgegenkommt und mich beschimpft: Ich bin wütend auf Sie, ich habe Ihr "Maß für Maß" gesehen. Was für eine Schweinerei!, dann sage ich: Sehr gut, ich freue mich. Das war 1967, als Sie das gesehen haben. Kunst ist etwas Essenzielles, das geht ganz tief, das bleibt. Da muss man nicht schnell und flott reagieren.
SPIEGEL: Ist das Theater in einer Zeit, in der Millionen von Zuschauern sich für Kinofilme und Popstars begeistern, nur noch eine Nischenkunst?
Zadek: Wenn es nicht Millionen, sondern Zehn- oder Hunderttausende sind, die sich für das Theater interessieren, genügt das doch. Es muss nicht alles für ein Millionenpublikum sein. Das ist doch das Einzige, was Ihre Zeitschrift, den SPIEGEL, erträglich macht: dass sie sich gelegentlich mit Themen beschäftigt, die nicht für Millionen sind.
SPIEGEL: Ist Ihnen nicht wichtig, dass Ihr Ensemble vor vollem Haus spielt?
Zadek: Natürlich. Manche Kritiker und Theatermacher vergessen genau das: Der Saal muss voll sein. Und dafür kann es nicht schaden, wenn mal ein großer Schauspieler auf der Bühne gezeigt wird. Ich will hier gar keine Lanze fürs Startheater brechen, aber man muss in einem großen Theater auch immer wieder große Persönlichkeiten erleben. Ich würde doch auch ein Schwein auf die Bühne holen, wenn die Leute das sehen wollen. Mir ist egal, warum die Leute ins Theater kommen; Hauptsache, sie kommen - und das, was sie dann sehen, hat Wahrhaftigkeit, also wirkliche Qualität.
SPIEGEL: Immerhin kommen die Menschen nun offenbar auch in Berlin in Ihre Aufführungen, nachdem Ihre Arbeit am Berliner Ensemble Anfang der Neunziger eher ungnädig aufgenommen wurde. Was hat Sie bewogen, wieder in die Stadt zurückzukehren und sogar am Berliner Ensemble zu inszenieren, wo demnächst ein "Peer Gynt" herauskommen soll?
Peter Zadek: "Menschen Löwen Adler Rebhühner. Theaterregie". Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln; 272 Seiten; 12,90 Euro.
Zadek: Wenn Sie es an den Berliner Kritikern von damals und heute messen, dann bin ich wahrlich ungnädig aufgenommen worden. Die Berliner Presse ist heute noch genauso provinziell wie vor zehn Jahren, und es ist kein Zufall, dass es in Berlin keine überregionale Zeitung gibt. Aber ich bin hier geboren, und viele meiner Schauspieler leben hier. Die Berliner sind für mich bis heute ein Problem. Ich will sie knacken. Das Berliner Publikum reagiert sehr schnell, zu schnell. Ich bin aber langsam. Ich möchte mir hier eine Kolonie aufbauen. Nicht nur die Amerikaner besitzen gern Kolonien.
SPIEGEL: Sind Sie, wie manche Kritiker nach der "Mutter Courage" schrieben, nun milde geworden?
Zadek: Ist das, was ich Ihnen hier gesagt habe, milde? Wenn Sie das so empfinden, dann bin ich milde geworden.
SPIEGEL: Herr Zadek, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
© DER SPIEGEL 29/2003