Irakische Pläne

Realistische Lösungsansätze für den Irak

Joachim Guilliard, August 2007

(Dieses ist der 3. Teil einer Serie, von denen nur die ersten beiden unter dem Titel „Strukturen der irakischen Befreiungsbewegung“ in junge Welt vom 22. und  24.9.2007 erschienen sind. Ein Teil davon erschien unter "Programm des nationalen Widerstands" in junge Welt, 03.03.2008)

Der Widerstand wächst.

Die militärische Kampfkraft des Widerstands wächst ungeachtet der Aufstandbekämpfungsmaßnahmen der Besatzer ständig weiter. Guerillagruppen operieren nicht nur im sogenannten sunnitischen Dreieck im Zentrum Iraks, sondern in unterschiedlicher Konzentration von Mossul im Norden bis Basra im Süden. In weite Gebiete wagen sich die Besatzungstruppen seit langem nur noch in großen Verbänden. Die britische Armee hat in zwei südlichen Provinzen ihre Basen komplett geräumt und sich auch in Basra weitgehend auf ihren letzten großen Stützpunkt außerhalb der Stadt zurückgezogen. Die Briten werden voraussichtlich 2008 ihre Truppen weitgehend abziehen, die Dänen, die die Briten im Süden unterstützten, gingen schon vor. Offiziell wird dies zwar als Übergabe der Kontrolle an die irakische Armee verkauft, aber zahlreiche Äußerungen britischer Offiziere zeigen deutlich, dass die Lage für die noch knapp 7.000 britische Soldaten schlicht unhaltbar wurde.[1] In den geräumten Städten kämpfen zum Teil nun die Badr Brigaden, die Milizen der schiitischen Regierungspartei SCIRI, die die Regionalregierung und die Polizei stellen, mit der Mehdi-Armee und anderen Milizen um die Kontrolle.

 

Die täglichen, allgegenwärtigen Angriffe auf Militärkonvois behindern effektiv die Beweglichkeit und die Versorgung der Truppen im ganzen Land. Jeder siebte der mehrheitlich von zivilen Sicherheitsfirmen gesicherten Nachschubkonvois gerät unter Beschuss.[2] Die Zahl und Treffsicherheit von Angriffen mit Mörsern und Boden-Boden-Raketen auf stark befestigte Stellungen nimmt ebenfalls stetig zu. Neben den großen Militärbasen sind dadurch zunehmend auch die Einrichtungen in der „Grünen Zone“ gefährdet, was zumindest psychologisch eine nicht unerhebliche Wirkung auf die Führung der Besatzungskräfte haben dürfte.[3]

 

Auch die Erhöhung der Zahl der Kampftruppen um knapp 30.000 Soldaten brachte für die US-Armee keine nennenswerte Besserung ihre Lage. Im Gegenteil: Die Zahl der gravierenden Angriffe stieg auf 5000 im Monat.[4] Das zweite Quartal 2007 war mit 331 getöteten Soldaten das bisher tödlichste seit Beginn des Krieges. Ein Rückgang der Verluste im Juli auf 79 wurde von Washington als Beweis präsentiert, dass die neue Strategie nun doch greife. Im Juli des Vorjahres waren es jedoch nur 43 gewesen. Im Juli sind die Zahl der Angriffe aufgrund der mörderischen Hitze immer stark zurückgegangen.[5]

 

Unabhängig von den unmittelbaren Verlusten, die sie den Besatzungstruppen zufügen, zermürben die pausenlosen Attacken deren Moral. Aussagen von Soldaten gegenüber dem britischen Observer bestätigen, was prominente Militärexperten, darunter der frühere Generalstabschef und Außenminister der USA, General Colin Powell, seit Monaten betonen: die US-Army ist „im Begriff zu zerbrechen“. Nur ein Drittel der regulären Armeeeinheiten könnten als „kampftauglich“ gelten. Die Zahl der Desertionen und unerlaubten Entfernungen von der Truppe hat sich seit Beginn des Afghanistanfeldzuges verdreifacht. Selbst Offiziere mit einer Elite-Ausbildung in West Point verlassen in einer Häufigkeit die Armee, wie sie seit 30 Jahren nicht beobachtet wurde. Bereits jetzt fehlen der US-Armee 3.000 Offiziere und das Loch wird immer größer. Hinzu kommt, dass die Kriege in Irak und Afghanistan mittlerweile 40% des gesamten Equipment der Armee zerstört oder verschlissen haben.[6]

 

Rückzug der Besatzer nicht in Sicht

Unter diesen Umständen begann auch die führende Zeitung der USA, die New York Times zum Rückzug zu blasen. In einem viel beachteten Leitartikel, der ein Gefühl von Hoffnungs­losigkeit und Verzweiflung vermittelte, forderte das einflussreiche Blatt zum ersten Mal die rasche Einleitung eines geordneten Rückzugs.[7] Zahlreiche weitere Zeitungen des Landes schlossen sich an. „Rückzug“ ist jedoch nicht ganz das richtige Wort. Tatsächlich geht es eher um eine Umgruppierung der Truppen: Aufgabe all der Landesteile, wo sie ohnehin nichts ausrichten können und Stationierung eines Teils in Regionen, wo sie sicherer sind, d.h. im kurdischen Autonomiegebiet, vielleicht auch in einigen Orten im Süden, sowie einen Teil in den angrenzenden Ländern. Auf diese Weise sollen genügend Truppen verbleiben, so die NYT, „um effektive Schläge und Luftangriffe gegen terroristische Kräfte im Irak führen zu können.“ An eine vollständige Aufgabe der Kontrolle über das Land, denken auch die meisten Rückzugsbefürworter nicht.

 

Konsens in Washington wie in den europäischen Hauptstädten bleibt, auf die von kurdischen und radikalschiitischen Parteien dominierte Regierung zu setzen und den Ausbau einer US-loyalen Armee zu forcieren – mit anderen Worten, einige irakische Kräfte gegenüber dem mehrheitlichen Rest in Stellung zu halten. Dies ist auch das Urteil der International Crisis Group (ICG). In einer recht realistischen Analyse zeigen sich die Experten der transatlantischen Denkfabrik, wie viele andere, überzeugt, dass die dominierenden Kräfte in der Regierung den Kreislauf aus intensivierter Gewalt und Gegengewalt anheizen, um Nutzen aus einer Polarisation der Gesellschaft ziehen zu können. Gleichgültig gegenüber den nationalen Erfordernissen, würden deren politische Führer zunehmend zu „Warlords.“ [8]

Ausgerechnet die „Sicherheitskräfte“, die offensichtlich mitverantwortlich für den aktuellen schmutzigen Krieg sind, zur Verringerung der Gewalt auszubauen, habe „die Weisheit einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung: Schritte, die genau den Prozess beschleunigen werden, den sie zu verhindern vorgeben“ stellten die ICG-Experten treffend fest.

 

Dasselbe gilt allerdings noch mehr für die weitere Präsenz der Besatzungstruppen, die mittlerweile von vielen als letztes Bollwerk gegenüber eskalierendem Chaos und umfassendem Bürgerkrieg angesehen werden. Chaos und Gewalt sind jedoch längst Alltag und es steht zu befürchten, dass die Zahl der Opfer die Millionengrenze bereits überschritten hat. Und die meisten dieser Opfer gehen, wie eine im Oktober in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte Studie ergab, unmittelbar auf das Konto der Besatzungstruppen und ihrer Verbündeten selbst. Allein bei der Ende Juni gestartete Offensive gegen die Stadt Baquba wurden in wenigen Tagen erneut Hunderte Anwohner Opfer verheerender Bombenangriffe.

 

Patentlösungen, wie die Gewalt beendet und das Land wieder stabilisiert werden kann, gibt es nicht. Sicher ist nur, dass die Besatzung keinen Beitrag dazu leisten kann. Konflikte zwischen rivalisierenden irakischen Kräften werden auch nach einem Abzug der Besatzungstruppen nicht einfach verschwinden. Die Bestrebungen der Besatzungsgegner die aufgezwungen Regelungen rückgängig zu machen, werden selbstverständlich auf den Widerstand der bisherigen Nutznießer stoßen. Der fehlende Schutz durch ausländische Truppen würde ihre Möglichkeiten aber drastisch verringern und könnte dazu beitragen, dass sie ihre Ambitionen kräftig herunterschrauben.

Auch Rory Stewart, einst hochrangiges Mitglied der Besatzungsbehörde, ist überzeugt, dass die meisten irakischen Politiker kompetenter, besonnener und kompromissfähiger sind, als im Westen angenommen wird. Er geht davon aus, dass der irakische Nationalismus die konfessionellen Spannungen „übertrumpfen“ würde, wenn die Präsenz der US-Truppen nicht einige Kräfte ermutigen würde, „aufs Ganze zu gehen.“[9]

 

Über die prinzipiellen Schritte herrscht daher unter unabhängigen Experten durchaus Einigkeit. Der erste Schritt müsste auf alle Fälle die sofortige Einstellung aller offensiven Operationen der Besatzungstruppen sein, verbunden mit der Vereinbarung eines verbindlichen Zeitplans für den zügigen Abzug aller zivilen und militärischen Kräfte der Besatzungsmächte. Das würde den Weg für Verhandlungen unter Einbeziehung aller irakischer Akteure frei machen. Die größeren Guerillaorganisationen haben stets ihre Bereitschaft zu Verhandlungen erklärt, sollte es einen solchen verbindlichen Zeitplan geben. Weitere Maßnahmen zur Deeskalation wären u.a. ein Moratorium in der Frage des Föderalismus, in dem viele Iraker das Ende der staatlichen Einheit sehen und eine Verschiebung der Entscheidung über die Zugehörigkeit der von den Kurdenparteien beanspruchten ölreichen Provinz Kirkuk. In besonders kritischen Gegenden, wie in Kirkuk, könnte die Stationierung neutraler, ausländischer Friedenstruppen nötig sein.[10]

Das politische Programm des nationalen Widerstands

Die Vorschläge decken sich weitgehend mit den Vorschlägen, die aus den Reihen des politischen und militärischen Widerstands kommen und bereits recht konkrete Konturen angenommen haben. Seit Frühjahr 2005 diskutieren im Rahmen der „Nationalen irakischen Initiative zur bedingungslosen Beendigung der Besatzung“ über hundert Vertreter diverser irakischer Gruppierungen, irakische Wissenschaftler und prominente Persönlichkeiten über detaillierte Pläne für ein Ende der Besatzung sowie die Zeit danach. Die Schirmherrschaft hat das Beiruter „Centre For Arab Unity Studies“ (CAUS) übernommen, eine der bedeutendsten arabischen Denkfabriken. Treibende Kraft ist ihr Generaldirektor, Dr. Khair El-Din Haseeb. Dieser hatte, bis er 1974 ins Exil ging, hohe Ämter im Irak bekleidet, wie z.B. die Führung der Irakischen Zentralbank.

Ende 2005 wurden die gemeinsam erarbeiteten „grundlegenden Prinzipien“ eines Friedensplans veröffentlicht. Im September 2006 schließlich erschienen detaillierte Pläne, inklusive den Entwürfen einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes, als 250-Seiten starkes Buch mit dem Titel „Iraks Zukunft planen: ein detailliertes Projekt zum Aufbau des Iraks nach der Befreiung.“ [11]

Die große Bedeutung des Projektes liegt darin, dass es offenbar gelang, einen Großteil der Besatzungsgegner einzubinden. Zweidrittel der Beteiligten, die aus allen Bevölkerungsgruppen kommen, leben noch im Irak, keiner jedoch hat - dies war Vorraussetzung - Verbindungen zur aktuellen Regierung.

Ko-Autoren waren beispielsweise Dr. Abdul Karim Hani, einer der prominenten Führer des Irakischen Nationalen Gründungskongress (INFC), sowie die gleichfalls sehr bekannte Frauenrechtlerin Hana Ibrahim, Direktorin der Bagdader Frauenorganisation Women’s Will[12]. Über die Kontakte einiger Beteiligten zu bewaffneten Widerstandsgruppen waren auch diese eingebunden und stehen nach Angaben der Autoren hinter dem Projekt. „Wir wurden viele Male gefragt, wie das politische Programm des Widerstands aussieht,“ so Hani. „Gut, hier ist es.“ [In der Tat stimmen die Vorschläge mit den programmatischen Grundlinien überein, die die Vertreter der sieben im „Politischen Büro des irakischen Widerstands“ zusammengeschlossen Guerillagruppen gegenüber Guardian skizzierten].

 

„Wir sind dabei, eine sehr breite, vereinte Widerstandsfront zu bilden, die den Willen der irakischen Bevölkerung repräsentiert" führt Hana Ibrahim weiter aus. „Wir haben erkannt, dass es ein Vakuum des politischen Widerstands gibt“, so Haseeb, „und dieser Plan füllt das Vakuum.“

Der erste Schritt müsste auch nach diesem Plan die Vereinbarung eines verbindlichen Zeitplans von maximal sechs Monaten für den Abzug der Besatzungsmächte sein. Die Besatzungstruppen müssten sich in dieser Zeit aus den Städten in gemeinsam vereinbarte Basen zurückziehen. Der „irakische nationale Widerstand“ würde unter diesen Bedingungen einen Waffenstillstand erklären, die Waffen allerdings zunächst behalten. Erst nach dem vollständigen Abzug aller Besatzungskräfte sollen alle bewaffnete Gruppen und Milizen aufgelöst werden.

 

Unter der Schirmherrschaft des UN-Sicherheitsrates und in Absprache mit dem „nationalen Widerstand“ und allen anderen politischen Kräften, die nicht mit den Besatzern kollaboriert haben, soll eine zweijährige Interimsregierung gebildet werden, deren Mitglieder bei den folgenden Wahlen von der Kandidatur ausgeschlossen sind. Eine der wichtigsten Aufgaben dieser Regierung wäre der Aufbau einer Armee und einer Polizei, die national orientiert und politisch neutral sind. Die Interimsregierung soll zudem befugt sein, in Absprache mit dem UN-Generalsekretär und dem „nationalen Widerstand“, eine begrenzte Anzahl von Truppen arabischer Länder, die sich nicht am Krieg beteiligt haben, einzuladen, Aufgaben der Friedenssicherung zu übernehmen.

Innerhalb eines Jahres müssten Neuwahlen durchgeführt werden – nach verbessertem Wahlgesetz und unter Kontrolle der UNO, arabischen Liga, Amnesty International und anderen internationalen Organisationen. Die wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments, wäre die Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Auch alle Verträge über die Ölproduktion, die während der Besatzung abgeschlossen wurden, würden annulliert, da der Abschluss solcher weitreichender Abkommen unter Besatzungsherrschaft nach internationalem Recht illegal ist. Das gleiche gelte für die von der kurdischen Regionalregierung mit ausländischen Konzernen abgeschlossenen Verträge.

Von den USA und Großbritannien wird für die ersten sechs Monate die Bereitstellung von mindestens 50 bzw. 20 Milliarden US-Dollar für Wiederaufbau und Wiedergutmachung verlangt. Dies wäre gerade die Hälfte der Summe, die sie aktuell pro Jahr für den Krieg ausgeben. [Außerdem sieht der Plan die Streichung der Reparationsforderungen an den Irak auf Basis früherer UN-Resolutionen vor und die Rückerstattung von Zahlungen, die bereits an andere Staaten geleistet wurde.]

Vorschläge gibt es auch zum Wiederaufbau, der Ölindustrie, Freiheit der Medien, der Überwindung konfessioneller Spannungen oder dem Streben der kurdischen Parteien nach Unabhängigkeit. So sollen sich die drei bereits seit 1991 autonomen kurdischen Nordprovinzen sich demnach auch weiterhin weitgehend selbst regieren können, „in einer Weise, die die nationalen und kulturellen Rechte Kurdistans innerhalb der irakischen Einheit und Souveränität gewährleistet“. Der von den kurdischen Regierungsparteien angestrebte Anschluss des ölreichen Kirkuks wird hingegen abgelehnt. Ein gewisser Grad an Föderalismus wird zwar befürwortet, das Prinzip soll aber nicht die regionale Vorherrschaft einzelner ethnischer Gruppen sein, sondern die Gewährleistung der vollen kulturellen und politische Rechte für alle Bevölkerungsgruppen im ganzen Land.

 

Insgesamt sind die Vorschlägen noch etwas von einer arabisch nationalistische Sichtweise dominiert, die sicherlich so nicht von allen wichtigen, oppositionellen Kräften des Landes geteilt wird, von den irakischen Verbündeten der USA ganz zu schweigen. Da die Autoren sich jedoch Mühe gaben, konsensfähige Positionen zu formulieren, könnten sie eine gute Grundlage für Verhandlungen sein. Ein Ausschluss aller Kräfte, die mit den Besatzern kollaboriert haben, dürfte praktisch weder machbar noch im Blick auf die Eindämmung der Gewalt, politisch sinnvoll sein.



[1] siehe z.B. “Serving British soldier exposes horror of war in 'crazy' Basra” , Independent, 27.4.2007 und “British hand over province to Iraqi control” Los Angeles Times , 19.4.2007

[2]Iraq Contractors Face Growing Parallel War”, Washington Post, 16.6.2007

[3]Green Zone Under Fire“, Iraqslogger, 3.5.2007 „Iraq Prognosis“, Informed Comments,  5.5.007

[4]Out of the shadows”, Guardian, 19.7.2007

[5] Iraq Coalition Casualty Count, http://icasualties.org

[6]Fatigue cripples US army in Iraq”, The Observer, 12.8.2007

[7]The Road Home”, New York Times, 8.8.2007

[8]After Baker-Hamilton – What to do in Iraq”, ICG, 19.12.2006

[9]Rory Stewart - Former CPA Official - Discusses Withdrawal”, Iraqslogger.com, 15.5.2007

[10] siehe z.B. „After Baker-Hamilton ..“, a.a.O. und Dennis Kucinich 12-Punkte-Plan, “HR 1234 - The Plan to End the Iraq War”, der im Januar 2007 dem US-Repräsentantenhaus vorgelegt wurde

[11] Khair El-Din Haseeb, “Planning Iraq’s Future: A detailed project to rebuild post-liberation Iraq”, CAUS,  September 2006, http://www.caus.org.lb/Home/material.php?id=24   Siehe auch Karen Button, Iraq: A Blueprint for Peace 

[12] Homepage: http://iraqiwomenswill.blogspot.com/