Sonderseite zum Nato-Gipfel in Straßburg 2009

 

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Die NATO 1949-91: Kurze Bilanz einer kriegerischen Geschichte

Joachim Guilliard

Dieser Text erschien leicht gekürzt in Broschüre "Kein Frieden mit der NATO"sowie als IMI-Analyse 2009/009
Er erschien gleichfalls leicht gekürzt auch in "Zeitung gegen Krieg" ZgK Nr. 28, Frühjahr 2009

Die 72-seitige Broschüre wurde von der Informationsstelle Militarisierung und der DFG-VK herausgegeben und kostet 2 Euro zzgl. Versand. Bestellung an: imi@imi-online.de  

Die NATO ist laut Selbstdarstellung ein Verteidigungsbündnis. Als sie vor 60 Jahre gegründet wurde, hatte sie jedoch keinen Feind. In seiner Studie vom 6. Januar 1945 kam selbst der „Vereinigte Geheimdienststab“ der USA zum Schluss, dass die Sowjetunion (SU) weder die Fähigkeit noch den Willen zur Konfrontation mit den USA und ihren Verbündeten habe, sondern sich auf den Wiederaufbau und die Sicherung ihres Einflussgebietes konzentrieren müsse und alles daransetzen werde‚ um internationale Nachkriegskonflikte zu vermeiden.[1]

Die USA und ihre Verbündeten waren sich jedoch bewusst, dass sie nur einen kleinen Teil der Weltbevölkerung umfassen, jedoch über den größten Teil des weltweiten Reichtums verfügen. Es ging nun darum „ein Schema von Beziehungen zu erarbeiten, das es uns erlauben wird, diese Position der Ungleichheit zu bewahren“, wie es George F. Kennan, der Theoretiker der Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion, 1948 in der „Policy Planning Study 23“ des US State Departments ausdrückte.[2]

Roll Back

Als Resultat zweier verheerenden Weltkriege, die die imperialistischen Mächte gegeneinander führten, war der Teil der Welt, auf den sie unmittelbar Zugriff hatten, stark geschrumpft. Das gemeinsame Ziel aller kapitalistischen Länder war daher die Rückgewinnung der Kontrolle über diejenigen Gebiete, die nach dem Ersten (Russland) bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg (Mittel- und Osteuropa und China) einen nichtkapitalistischen Weg eingeschlagen hatten. Dazu mussten sie nun an einem Strang ziehen. Da die USA eine unangreifbare Vormachtstellung erlangt hatten, konnte unter ihrer Führung ein transatlantisches Bündnis aufgebaut werden, das eine enge Zusammenarbeit der imperialistischen Staaten sicherstellte und die innerimperialistische Konkurrenz unterm Deckel hielt. Für die USA war die NATO das Instrument zur Durchsetzung ihrer Hegemonie im westlichen Lager, die geschwächten europäischen Mächte sicherten sich durch ihre freiwillige Unterordnung Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber dem Ostblock und den um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Länder Afrika und Asiens.

Die Funktion der Nato als Instrument zur Sicherstellung einer verlässlichen militärischen Zusammenarbeit und einer einheitlichen Politik der westlichen, imperialistischen Mächte gegenüber dem Rest der Welt, zeigt sich z.B. sehr deutlich im aktuellen Krieg gegen den Irak. den die deutsche und die französische Regierung offen abgelehnt hatten. Trotz konkurrierender Interessen stand die enge Zusammenarbeit der imperialistischen Mächte im Krieg und während der Besatzung jedoch nie in Frage. Da auch Deutschland und Frankreich bei der militärischen Absicherung ihrer weltweiten Interessen auf die USA und die NATO angewiesen sind und sie auch ihre Mitsprachemöglichkeiten nicht verlieren wollen, kam ein Ausscheren aus dem Bündnis nie in Frage.

Die USA hatten bereits während des Zweiten Weltkrieges ehrgeizige Pläne ausgearbeitet, um die strategische Kontrolle über die Weltwirtschaft zu sichern und dazu eine Konzeption entworfen, die als „Grand Area Planning“ (Großgebietsplanung) bekannt wurde. Sie enthielt Vorgaben, welche Weltregionen "offen" sein müssen – offen für Investitionen und den Zugriff auf die Ressourcen sowie in welcher Form Finanzinstitutionen und Finanzplanung zu organisieren sind.

Haupthindernisse bei diesen Plänen waren die Sowjetunion und China. Unter dem Stichwort „Roll back“ konzentrierten sich die politischen und militärischen Anstrengungen daher auf das Zurückdrängen des „aggressiven Kommunismus.“ Dies begann zunächst in der eigenen Hemisphäre mit der militärischen Bekämpfung der linken Volksfront in Griechenland und der Ausarbeitung von Putschplänen, die eine Machtübernahme durch kommunistische Parteien – z.B. in Frankreich und Italien – verhindern sollten. Die Sicherung der herrschenden kapitalistischen Ordnung im Innern sollte auch zu einem wesentlichen Aufgabengebiet der Nato werden.[3] Ab Juni 1950, neun Monate nach Gründung der Nato, kämpften alle damaligen Mitgliedsstaaten, mit Ausnahme von Island und Portugal an der Seite der USA im Koreakrieg.

Atomkriegsplanungen

Nur zwei Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der Generalstab der US-Streitkräfte ein Memorandum verabschiedet, das verlangte, auf keinen Fall einen Schlag der SU abzuwarten, sondern zuvor selbst einen Erstschlag zu führen.[4] Dies blieb den gesamten Kalten Krieg das Leitmotiv aller Militärplanungen gegen die UdSSR und Grundlage aller US-Strategien. Sie wurde im Großen und Ganzen auch von der NATO übernommen. Der Konfrontationskurs wurde in den folgenden Jahren durch brutale Angriffspläne der USA wie „Atombombenziel Sowjetunion“ (Direktive JIC 329, 1945), „Broiler“ (1947), „Halfmoon“ (1948) oder „Dropshot“ (1949) verschärft. Alle sahen die Zerstörung einer von Jahr zu Jahr größeren Zahl sowjetischer Zentren durch Atombomben vor.[5] Das Atomkriegsführungsszenario „Dropshot“, das acht Monate nach Gründung der NATO im Dezember 1949 eingeführt und bis Ende der 50er Jahre maßgebend war, strebte bereits eine 85prozentige Vernichtung der sowjetischen Industrieanlagen durch einen Angriff auf 100 sowjetische Städte mit 300 Atombomben und 20.000 Tonnen konventionellen Bomben an.

Nach dem ersten sowjetischen Atomtest 1949 entwickelten die USA die Strategie der „massiven Vergeltung“. Selbst beschränkte konventionelle Angriffe auf ein Bündnismitglied sollten mit einem Atomschlag beantwortet werden. 1962 in der sog. „Kubakrise“ wurde dies bereits für den Fall der Aufstellung von sowjetischen Raketen auf Kuba angedroht. Die NATO übernahm 1952 diese Strategie.

Nachdem die Sowjetunion 1954 durch die Aufstellung eigener interkontinentaler Atomwaffen das strategische Gleichgewicht hergestellt hatte, begannen die USA, mit Atomsprengköpfen bestückbare Kurz- und Mittelstreckenraketen in Westeuropa aufzustellen, die das Gebiet des Ostblocks erreichen konnten. Auch die wiederbewaffnete BRD wurde NATO-Mitglied. Im Gegenzug gründete die Sowjetunion 1955 das Militärbündnis Warschauer Pakt und rüstete ihre in Osteuropa stationierten Truppen ebenfalls mit Atomwaffen aus. 1958 entschied die NATO, die US-amerikanischen Atomwaffen in ihre Militärstrategien einzubeziehen, die Entscheidung über ihren Einsatz blieb aber den USA überlassen.

Nachdem die SU im Bereich der Atomwaffen nahezu gleichgezogen hatte, wurde die Strategie der „Massiven Vergeltung“ untauglich, da dadurch aus einem lokal begrenzten Krieg rasch ein globaler Vernichtungskrieg werden konnte. Angesichts der langfristigen Folgen atomarer Kriegsführung, war die „Massive Vergeltung“ auch politisch nicht länger haltbar gewesen, denn sie hätte auch bedeutende Teile Mittel- und Westeuropas langfristig verseucht.  Deshalb wurde die "Massive Vergeltung" 1967 durch die Strategie der „Flexible Response“ (Flexiblen Antwort) abgelöst, die ein abgestuftes Vorgehen mit konventionellen Waffen, taktischen Atomwaffen und nuklearen Interkontinentalraketen vorsah. Man glaubte, so einen Krieg gegen die Warschauer Pakt Staaten geografisch und bzgl. der Wahl der Waffen eingrenzen zu können. Auch diese – mit Modifizierungen im Bereich der Atomwaffen – bis 1991 gültige Strategie beinhaltete die Option eines atomaren Erstschlags.

Entgegen der durchgängigen Propaganda einer sowjetischen Bedrohung, waren die Nato-Staaten denen des Warschauer Paktes militärisch stets weit überlegen und verfügten in allen Waffengattungen zumindest qualitativ über einen erheblichen Vorsprung.[6] Die Zweitschlagsfähigkeit der SU blieb jedoch trotz aller Rüstungsanstrengungen unangefochten. Angesichts des nuklearen Patts war das immense Arsenal strategischer Atomwaffen daher politisch weitgehend nutzlos geworden. Da ihr Einsatz bei begrenzten konventionellen Konflikten völlig unverhältnismäßig und viel zu riskant war, konnte er kaum glaubhaft angedroht werden. Zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen konnten sie wenig beitragen.

Die USA trachteten daher ab den 70er Jahren verstärkt danach, einen Atomkrieg wieder führbar und gewinnbar zu machen, angeregt durch neu entwickelte Mittelstreckenraketen, die Atombomben zielgenau auf militärische Ziele und Führungsbunker lenken konnten. Auf der Basis dieser Waffensysteme gingen die USA nun zu einer Strategie der „Enthauptung“ der Sowjetunion durch Vernichtung ihrer politischen und militärischen Führung über. 1980 unterzeichnete US-Präsident Jimmy Carter die Presidential Directive 59 in der eine  „Strategie des Gegengewichts” mit dem Ziel formuliert wurde, einen nuklearen Krieg unterhalb der Schwelle eines globalen Schlagabtausches führen und gewinnen zu können.[7] Im Dezember jenes Jahres erschien zudem ein Artikel des Pentagonberaters Colin S. Gray mit dem Titel „Victory is possible“ (Sieg ist möglich), der einen atomaren Überraschungsangriff der USA mit dem Ziel, die politisch-militärischen Führungskräfte der Sowjetunion auszuschalten, als notwendige „Option“ beschrieb und dazu selbst 20 Millionen Todesopfer in den USA als tragbares Risiko einkalkulierte. US-Präsident Ronald Reagan übernahm diese Strategie offiziell und machte ihren Erfinder zu seinem führenden Militärberater.[8]

Im Zentrum der verfeinerten Angriffsplanung standen die Pershing II-Raketen und Cruise Missiles, die gemäß dem „Nato-Doppelbeschluß“ vom Dezember 1979 in Westeuropa aufgestellt wurden. [[Diese Raketen waren noch wesentlich zielgenauer als die erste Generation und konnten auch mit taktischen Atomsprengköpfen mit einer Sprengkraft unter der von Hiroshima bestückt werden.]]

 Offiziell wurde der Nato-Beschluß  mit der Bedrohung der neuen SS-20-Raketen der SU begründet. Wie Colin S. Gray 1982 im Air Force Magazin bestätigte, waren die 108 Pershing II und 464 landgestützte Cruise Missiles jedoch Teil der Enthauptungsstrategie.[9]

Airland-Battle und Follow-on Forces Attack

Parallel zu den Atomkriegsplanungen wurde auch die konventionelle Kriegsführung der NATO-Staaten neu ausgerichtet: weg von der „Vorneverteidigung“ direkt an den Grenzen zum Warschauer Pakt hin zu offensiven Angriffen weit in den gegnerischen Raum hinein. Erstmals formuliert wurde dies 1982 in der „Air-Land-Battle“-Doktrin der US-Army und deutlicher noch in den Langzeitplänen wie „Airland Battle 2000“. Beide wurden auch von der Bundeswehr übernommen.[10] Auf NATO-Ebene verabschiedete der Verteidigungsausschuss des Bündnisses 1984 das nahezu deckungsgleiche Konzept „Follow-On-Forces-Attack“, das Angriffe bis zu 500km in den sowjetischen Raum vorsah.[11]

Diese Kriegsführungspläne hingen eng zusammen mit dem Konzept der „Horizontalen Eskalation“, das wesentlicher Bestandteil der „Flexible Response“ war. Darunter verstand man die Drohung, eine politische oder militärische Intervention der Sowjetunion in einem lokalen Konflikt, z.B. am Persischen Golf, durch Angriffe auf leicht verwundbare Stellen des Warschauer Paktes zu „vergelten“. Besonders geeignet hielten die US-Strategen dafür die Zentralfront in Mitteleuropa, d.h. ein von deutschem Boden ausgehender Angriff auf die osteuropäischen Staaten. [12].

Wie der damalige Heeres-Inspekteur der Bundeswehr Meinhard Glanz und sein amerikanischer Kollege Edward C. Meyer 1982 in dem gemeinsamen erarbeiteten Konzept „Air Land Battle 2000“ darlegten, ging es dabei nicht nur um den Konflikt mit der SU, sondern auch um die Kontrolle des Restes der Welt. „Die aufstrebenden Länder der Dritten Welt (schaffen) ein größeres Ungleichgewicht der Kräfte. Diese Nationen könnten sich mit feindlichen Staaten zusammenschließen und auf Terror, Erpressung oder begrenzte Kriege zurückgreifen, um einen gleichberechtigten Anteil an den Ressourcen zu erhalten.“[13]

Die aggressive Frontstellung gegen die Staaten des Warschauer Pakts war von Anfang auch ein Mittel gewesen, um sich größere Spielräume beim Vorgehen gegen Befreiungsbewegungen und blockfreie Staaten zu verschaffen. Es war kein Zufall, dass der Beschluss moderne Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren, bald nach dem Sturz des Schah-Regimes erfolgte, durch den die westlichen Staaten ihre wichtigste Stütze in der wirtschaftlich und strategisch so bedeutsamen Golfregion verloren.

Das Netz von Militärbasen, das im Rahmen der Nato geschaffen wurde, mit dem Schwerpunkt in der BRD, diente dabei als Basis bei den Kriegen gegen die um ihre Befreiung kämpfenden Völker Afrika und Asiens. Die Nato unterstützte die USA auch aktiv in den Kriegen gegen Korea und Vietnam, sowie auch Portugal in Angola und Zimbabwe.

Die ab 1990 einsetzende offen aggressive Kriegspolitik der Nato bedeutet daher keinen Kurswechsel der Allianz vom „Verteidigungsbündnis“ zum „Aggressionsbündnis“ wie es oft heißt. Die NATO-Staaten hatten nach dem Zusammenbruch der SU nur freie Hand für eine Politik, die sie seit ihrer Gründung verfolgen.


[1] Memorandum of the Joint Intelligence Staff, Capabilities an Intensions of the USSR in the Post-War Period, JIS 80/2, January 6, 1945, National Archives, Washington D.C.,
siehe Jürgen Bruhn: "Der kalte Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion", Focus Gießen, 1995 (zitiert nach Lühr Henken: “Die NATO im Kalten Krieg – Verteidigungs- oder Angriffsbündnis“, Beitrag auf dem Kasseler Friedensratschlag, 2.12.2008)

[2] George F. Kennan, „Review of Current Trends in U.S. Foreign Policy“, Policy Planning Staff, PPS No. 23, in: Foreign Relations of the United States, 1948, Vol. I v. 24.2.1948, pp. 509-529

[3] Hierfür wurde u.a. Gladio ins Leben gerufen, eine paramilitärische Geheimorganisation der Nato, deren Zweck es war, nach einer kommunistischen Machtergreifung in Westeuropa Guerillaoperationen durchzuführen. Teile der von 1950 bis mindestens 1990 existierenden Organisation verübten unter Mitwirkung von staatlichen Organen systematische und zielgerichtete an Terrorakte in verschiedenen europäischen Ländern. Siehe Daniele Ganser: NATO’s Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe, London 2005

[4] Joint Chiefs of Staff, Basis for the Formulation of a U.S. Military Policy, JCS 1496/2, 9.9.1945, Abgedruck in: U.S. Department of State, Foreign Relations of the United States 1946, vol.I, Washington D.C. (nach Jürgen Bruhn, Der kalte Krieg ...)

[5] s. Heinrich Hannover, Befreiung auf amerikanisch, Ossietzky, Sonderdruck März 2004 (er benutzt als Quelle gleichfalls Jürgen Bruhn, Der kalte Krieg ...)

[6] s. Lühr Henken a.a.O.

[7] Matthew M. Oyos  “Jimmy Carter and SALT II: The Path to Frustration” American Diplomacy, 12/1996

[8] Colin S. Gray u. Keith Payne, “Victory is Possible”, Foreign Policy, Sommer 1980, pp. 14-27

[9] Till Bastian (Hrsg.): Ärzte gegen den Atomkrieg. Wir werden Euch nicht helfen können, Pabel-Moewig Verlag Kg, 1987,  S. 9 (s. IPPNW-Chronik 1982)

[10] Bjørn Møller, „Wider die Offensive - Vorschläge für eine defensive Sicherheitsstruktur in Europa“, W&F, 3-98
Ludwig Weigl, Strategische Einsatzplanungen der NATO, Dissertation, Universität der Bundeswehr München, September 2005

[11] , Bernard W. Rogers, "Greater Flexibility For NATO's Flexible Response", Strategic Review, XI (Spring 1983), pp. 11-19

[12] Wilhelm Bittorf, „Der Schlieffen-Plan des Pentagon“, Gewerkschaftliche Monatshefte, 9/83

[13] Clemens Ronnefeldt, „Wieder einmal Blut für Öl“, Friedensforum 1/2002