Ende Oktober 2006 besuchte Prof. Norman Paech, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, den Gaza-Streifen. Dort sprach
er mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft sowie mit Aktivisten aus
Basisorganisationen. Der Abzug der israelischen Siedler hat sich auf
die
Situation der Bewohner offenbar nicht positiv ausgewirkt, musste er
feststellen.
Ein
Ort der Zerstörung, der Gewalt und Selbstzerfleischung
empfängt uns,
als wir
Ende Oktober Gaza besuchen und nach dem elenden Checkpoint Erez hinter
der
israelischen Grenze wieder ans Licht treten. Zu unserer Rechten
befindet sich
die »Erez Industrial Area«, ein Industriegebiet, das die
israelische
Armee erst
vier Tage vor unserem Besuch mit Helikoptern und Bulldozern in Schutt
und Asche
gelegt hatte. Mit »Sicherheitsgründen« wurde die
Attacke
gerechtfertigt, man
vermutete, dass hier Waffen und Munition hergestellt werden. Im
Nachhinein
stellte sich das als falsch heraus. Da, wo vor kurzem noch etwa 10 000
Palästinenserinnen und Palästinenser ihren Arbeitsplatz
hatten, liegt
nun nur
noch ein leeres Ruinenfeld. Schon vorher hatte die Arbeitslosenquote
bei etwa
40 Prozent gelegen: Hier träumt niemand mehr.
Im Gegenteil: Hätten die Bewohner von Gaza die freie Wahl,
würden 60
Prozent
ihre Heimat sofort verlassen – keine gute Nachricht, nachdem erst vor
einem
Jahr die letzten israelischen Siedler das Gebiet geräumt hatten.
Welche
Verheißungen, welche Illusionen verbanden sich damals mit der
Entscheidung des
ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon, den
kolonialen
Status von Gaza aufzuheben und den Palästinensern Autonomie,
Würde und
Selbstbestimmung zurückzugeben. Ökonomie, politische
Institutionen, ihr
Leben
könnten sie fortan selbst organisieren, hieß es – aber was
haben sie
daraus
gemacht?
75
Prozent leben unter der Armutsgrenze
Zu
Zeiten der Apartheid nannte man das Schwarzen-Ghetto vor der heutigen
namibischen Hauptstadt Windhoek »Katutura«, zu deutsch:
»der Ort, an
dem ich
nicht leben will«. Gaza ist heute eine Art Katutura Jerusalems.
Gut 75
Prozent
seiner Bewohner leben unter der Armutsgrenze von 2,10 US-Dollars pro
Tag.
Wieder drängt sich die Frage auf: Warum haben sie nach dem Abzug
der
Israelis
nicht mehr aus ihrer neuen Freiheit gemacht? Die israelischen Siedler
hatten
ihnen ihre Gewächshäuser hinterlassen, allerdings ohne die
nötige
technische
Ausrüstung. Die hatten sie mitgenommen. Die Palästinenser
machten sich
also
daran, mit hohem finanziellem Aufwand neue Geräte zu kaufen, zu
installieren
und die Gewächshäuser wieder zu bewirtschaften.
Mit
Jerusalem war der Export der Produkte über den einzig zur
Verfügung
stehenden
Übergang Karni ausgemacht. Als die ersten Lastwagen mit der Ernte
am
25.
Dezember 2005 anrollten, wurde der Übergang »aus
Sicherheitsgründen«
geschlossen. 17 000 Tonnen Obst, Gemüse und Blumen verrotteten
oder
wurden an
das Vieh verfüttert.
Auch
die zweite größere Einnahmequelle, der Fischfang, ist
mittlerweile
versiegt,
weil – aus eben jenen »Sicherheitsgründen« – kein Boot
mehr auslaufen
darf. Und
der Strom jener Arbeitskräfte, die sich allmorgendlich und abends
durch
die
Drehtüren der Viehdrift am Erez-Checkpoint drängten, um in
Israel
Arbeit zu
finden, ist völlig abgerissen. Für die Bewohner Gazas gibt es
dort
keine Arbeit
mehr. Was aber kann man aus solch einer »Freiheit« machen?
Als
wir am 30. Oktober abends den Gaza-Streifen wieder verlassen,
hören wir
über
uns in der Dunkelheit die Rotoren der Helikopter. Man hatte uns
prophezeit:
»Wenn ihr weg seid, beginnt es wieder.«
»Es«,
eine neue Militäroffensive, begann denn auch am Tag nach unserer
Abreise. Nach
einer Woche »Herbstwolken« waren über 50 Tote,
zahllose Verletzte und
schwere
Zerstörungen zu beklagen. Seit dem 25. Juni, dem ersten
Überfall der
Operation
»Sommerregen« nach der Entführung des israelischen
Soldaten Gilad
Shalit, sind
es nun schon über 350 Tote und über 800 schwer Verletzte.
Die
Krankenhäuser sind kaum noch in der Lage, die neuen Opfer zu
versorgen.
Das
Personal ist ohne Bezahlung, da Jerusalem immer noch die Steuer- und
Zolleinnahmen von 50 bis 60 Millionen US-Dollar monatlich
einbehält.
Das
zerstörte Elektrizitätswerk, das zuvor fast die Hälfte
des
Gaza-Streifens mit
Strom versorgte, ist erst zu 40 Prozent wieder aufgebaut. Nicht nur die
medizinische Versorgung und die mit Wasser sind dadurch stark
beeinträchtigt –
mit dem Einbruch der Dämmerung versinken ganze Stadtviertel in
Dunkelheit.
Waffenexperimente
und neue Terrormethoden
Nachgewiesen
ist, dass während der Offensive Phosphor eingesetzt wurde. Und es
gibt
neue,
bisher nicht erklärbare Verwundungen, die offenbar aus der
Verwendung
noch
unbekannter Munition stammen. Man vermutet die in den USA entwickelte
Waffe
DIME (Dense Inert Metal Explosive) mit extrem hoher Sprengkraft
innerhalb eines
kleinen Radius.
Jeder
Krieg ist ein Experimentierfeld für neue Waffen und neue Methoden.
Der
Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats, John Dugard, hat in
seinem
jüngsten Report Anfang September davon berichtet, dass die
israelische
Armee
eine neue Methode des psychologischen Terrors in Gaza anwendet.
Einwohner
werden vom militärischen Geheimdienst telefonisch gewarnt, dass
ihr
Haus
innerhalb der nächsten Stunde bombardiert werde. Manchmal wird
diese
Drohung
Realität, manchmal bleibt sie eine Drohung.
Diese
Taktik verursacht unausweichlich Angst und Panik unter den
Palästinensern. Sie
werden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und als interne
Vertriebene
Zuflucht
in Räumen der UN-Flüchtlingsorganisation zu suchen. Das
bewahrt sie
nicht vor
einer anderen bekannten Methode des Terrors: Tiefflüge der
F-16-Jäger
mit
Überschallgeschwindigkeit über den Wohngebieten. Die wie
Artilleriefeuer
wirkenden Schallwellen haben schlimmsten Schrecken unter der
Bevölkerung und
vor allem unter Kindern hervorgerufen. In den Worten Dugards:
»Wenn
Terrorismus
überhaupt einen Ausdruck hat, dann sicherlich diesen.«
Israel
beklagt, dass über 300 Kassam-Raketen auf sein Territorium
abgefeuert
worden
seien, zumeist auf die Stadt Sderot. Deren Einwohner müssten in
ständiger Angst
leben, und es habe Verletzte und Schäden gegeben. Auch um diese
Gefahr
zu
beseitigen, habe man zu den jüngsten Aktionen gegriffen. Es
besteht
kein
Zweifel, dass dieser willkürliche und beliebige Raketenbeschuss
trotz
weniger
Todesopfer und Verletzten eklatant gegen das humanitäre
Völkerrecht
verstößt.
Nach der Rechnung John Dugards fallen aber 220 bis 250 Granaten
täglich
auf
Gaza, dazu kommen über 220 Bombardements aus der Luft sowie
Luft-Boden-Raketen
und eine lange Liste ernster Völkerrechtsverletzungen durch
Israels
Armee.
Klare
Botschaft: »Reißt die Mauern ein«
Derzeit
kommen 90 Prozent der Güter auf dem schwarzen Markt durch Tunnel
nach
Gaza –
auch Waffen. Die Blockade kann dies nicht verhindern. Genauso wenig
werden
Israels heftige Reaktionen den Abschuss der Kassam-Raketen stoppen
können. Wen
man auch spricht – Unternehmer oder Mitglieder der Fatah, Banker oder
Mitglieder der Hamas, UN-Mitarbeiter, unabhängige Politikerinnen
und
Politiker
oder Mitglieder der »Volksbefreiungsfront Palästinas«
– die Botschaft
ist
dieselbe: »Reißt die Mauern dieses Gefängnisses ein.
Wir brauchen euer
Geld
nicht, nicht das, was ihr humanitäre Hilfe nennt. Wir brauchen
Freiheit, offene
Grenzen, ungehinderten Zugang zum internationalen Markt, zu unseren
eigenen
Steuer- und Zolleinnahmen, und wir werden unser Leben selbst
organisieren
können. Hebt den Boykott und die Blockade der aus freien Wahlen
hervorgegangenen Regierung auf und wir werden unsere
Auseinandersetzungen unter
uns austragen können.«
Momentan
scheint diese Vision in weiter Ferne: Wie die israelische Tageszeitung
»Haaretz« unlängst berichtete, bauen die USA seit
einiger Zeit in
Jericho ein
Trainingscamp aus, wo sie Truppen für den palästinensischen
Präsidenten
Mahmud
Abbas ausbilden und ausrüsten wollen. Partner dafür suchen
sie
angeblich unter
den europäischen Staaten, und es gebe auch Pläne, derartige
Camps im
Gaza-Streifen einzurichten. »Haaretz« interpretiert die
vermeintlichen
Pläne
als das, was sie offensichtlich bewirken sollen: die weitere Zuspitzung
der
gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Abbas' Fatah und der Hamas,
um
schließlich doch noch eine Revision des Wahlergebnisses zu
erreichen.
Damit
aber nimmt die Politik kriminelle Züge an. Schon die Weigerung,
das
Ergebnis
eines fairen und demokratischen Wahlprozesses anzuerkennen, war
unverantwortlich. Sie bedeutet eine schwere Niederlage für die
eigene
Glaubwürdigkeit, das Völkerrecht und die Menschenrechte.
Schlimmer: Es
trägt
nichts zur Lösung des alltäglichen Kriegs zwischen Israel und
den
Palästinensern bei, es verschärft die Gewalt und die Leiden
beider
Völker. Es
ist höchste Zeit, dieses Gefängnis aufzulösen – im
Interesse beider
Gesellschaften, der palästinensischen und der israelischen.