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"Israel verdient am Leid der Palästinenser"
Hilfsorganisation Medico International erhebt schwere Vorwürfe - Menschen im Gazastreifen werden im Stich gelassen

Bönnigheimer Zeitung 03. Januar 2009
http://www.boennigheimerzeitung.de/bz/html/impressum/index.php4 

Israels Kampf gilt offiziell der radikal-islamischen Hamas. Doch Opfer sind die Menschen im Gazastreifen. Die Hilfsorganisation Medico International erhebt schwere Vorwürfe gegen Israel.

Tsafrir Cohen kann den Israel-Kurs der Kanzlerin nicht nachvollziehen.Tsafrir Cohen kann den Israel-Kurs
der Kanzlerin nicht nachvollziehen.

Tsafrir Cohen ist Repräsentant von Medico International in Israel und Palästina.
Die Organisation setzt sich weltweit ein für einen bestmöglichen Zugang aller Menschen zur medizinischen Versorgung.


Wie steht es um Ihre Kontakte in den Gazastreifen?


TSAFRIR COHEN: Wir stehen in ständigem Kontakt mit unseren palästinensischen Partnern. Einer unserer Ansprechpartner, Dr. Aed Yaghi, erzählte mir, dass sie zu Hause weder Wasser, noch Strom, noch Gas haben. Sie können nicht mehr kochen, es gibt kaum Brot, man muss dafür drei bis vier Stunden anstehen. Seine Frau traut sich nicht mehr aus dem Haus. Sie ist wie viele andere in einer Art Schockzustand gefangen. In den Städten sind ganze Straßenzüge ohne Fenster. Israel bombardiert ja mit Ein-Tonnen-Bomben auf eine Stadt, die kaum größer ist als Stuttgart.

Wie ist die medizinische Versorgung, was können die Kliniken noch leisten?

COHEN: Die Krankenhäuser sind total überlastet. Wir selbst sind mit zwei mobilen Kliniken unterwegs. Weil wegen der langjährigen Blockade Krankenwagen fehlen, helfen wir mit unseren Fahrzeugen. Man darf nicht vergessen, dass es seit der Besetzung des Gazastreifens, 1967, nicht gelungen ist, ein funktionierendes Versorgungssystem aufzubauen. Bei schweren Erkrankungen gingen die Menschen aus der Westbank und aus Gaza in die Referenzkrankenhäuser nach Jerusalem. Zwar können wir eine Grundversorgung leisten, beischwierigeren Fällen muss uns die israelische Organisation Ärzte für Menschenrechte unterstützen. Mit ihrer Hilfe versuchen wir, Schwerverletzte aus dem Gazastreifen heraus zu bekommen.

Klappt das?

COHEN: Zum Teil. Nach und nach können Schwerkranke nach Ägypten ausreisen, nach Israel gelangen nur wenige.

Warum das?

COHEN: Die Israeli stellen Maximalforderungen für die Behandlung von Palästinensern. Sie verlangen von der Palästinensischen Autonomiebehörde mehr Geld für die Behandlung Kranker als von ihren eigenen Leuten. Das will die Autonomiebehörde nicht bezahlen. Sie verlangt, dass Israel als Besatzungsmacht für die Behandlung der Menschen aufkommt.

Werden die Kranken und Verletzten so zum Spielball der Politik?

COHEN: Wir haben drei Konflikte: einen humanitären, einen politischen und einen rechtlichen. Nach letzteremist der Gazastreifen besetztes Gebiet - entgegen allen Behauptungen Israels. Israel hat den Gazastreifen zwar einseitig verlassen, doch beherrscht es alle Grenzen.

Die israelische Außenministerin Zipi Livni betonte dieser Tage in Paris, Israel sorge für die palästinensische Bevölkerung. Können Sie das bestätigen?

COHEN: Nein, das ist absolut nicht wahr. Israel verhindert die Arbeit der ausländischen Organisationen. Schlimmer noch: Israel verdient an jedem Transport. Um nach Gaza zu kommen, brauchen wir Lkw, müssen wir Pseudo-Zölle zahlen. Das kommt dem israelischen Steuerzahler zugute. Die Weltgemeinschaft zahlt 1,5 bis 2 Milliarden Dollar im Jahr, um die Menschen unter Besatzung am Leben zu halten mit Zucker, Öl, Gas . . . Das sind Leistungen, die eigentlich von Israel erbracht werden sollten. Nach der Genfer Konvention trägt Israel die Verantwortung für die Menschen in den besetzten Gebieten. Die westliche und die arabische Welt sind hier nur eingesprungen.

Israel betont, einen Krieg gegen die radikal-islamische Hamas zu führen, nicht aber gegen die 1,5 Millionen Menschen dieses Küstenstreifens.

COHEN: Die Statistik von heute spricht eine andere Sprache: Etwa 50 Kinder und 25 Frauen wurden getötet, viele verletzt. Die Universität wurde bombardiert, die Moschee zerstört. Die 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen gelten als Sicherheitsrisiko. Die israelische Führung sagt "Hamas", hetzt aber gegen die Menschen. Die Bewohner des Gazastreifens werden mit F16-Bombern angegriffen. Wo umgerechnet 5000 Menschen pro Quadratkilometer leben, kann man nicht exakt bombardieren. Die Mehrzahl der Opfer sind keine Hamas-Mitglieder, das sind unschuldige Zivilisten.

Rechnen Sie damit, dass den Luftangriffen eine Bodenoffensive folgt?

COHEN: Wir wissen es nicht - auch nicht, was sie bedeuten würde, ob sie eine vollständige oder eine Teil-Besetzungzur Folge hätte. Sicher jedoch wäre es eine sehr gefährliche Situation, mit vielen Opfern auf beiden Seiten. Das könnte zu neuen Unruhen führen in der gesamten arabischen Welt.

Wirkt sich der Krieg bereits auf andere Palästinensergebiete aus?

COHEN: Augenblicklich ist die Westbank abgeriegelt. Dort ist es noch relativ ruhig. Die Aufrufe zur 3. Intifada verhallen weitgehend. Die Leute sind müde, sie haben resigniert. Mit seiner Trennungspolitik hat es Israel geschafft, die Solidarität auszuheben zwischen den Menschen im Gazastreifen und der Westbank. Man hat sich auseinander gelebt, kennt sich nicht mehr persönlich, allenfalls noch über das Telefon. Es gibt keine große soziale Bewegung mehr, auch kein Nationalgefühl, weil diese Nation in der Realität nicht vorstellbar ist.

Hat angesichts der Gewalt und angesichts des Wahlkampfes in Israel eine Waffenruhe, wie Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sie fordert, überhaupt eine Chance?

COHEN: Kaum. Die Situation ist sehr trickreich für die Regierung. Ehud Barak und seine Arbeitspartei sind populärer denn je, auch die amtierende Regierung punktet. Trotzdem gibt es die Angst, dass dieser Krieg wie der Libanon-Feldzug schlecht enden könnte. Die Europäer reagieren dieses Mal schneller. Doch sind wir von Medico und unsere Partner extrem enttäuscht von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ihre Unterstützung für jedwede Aktionen Israels machen uns sprachlos. Das sind Worte, die wir nicht einmal aus Washington kennen. Statt den israelischen Hurrah-Patriotismus aus historischen Gründen zu befeuern, sollte die Kanzlerin an die Genfer Konventionen erinnern. Sie sind die internationale Antwort auf den Zweiten Weltkrieg und auf den Nationalsozialismus.

VON ELISABETH ZOLL