Wer rechtswidrig besetzt, hat kein Recht auf Verteidigung
Norman Paech – Rede auf dem Hamburger Gänsemarkt am 2. Januar
2009
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich kann mich kaum an einen derart schrecklichen Jahreswechsel
wie diesen erinnern. Mit einem Krieg in Palästina, der ein Massaker
unter der Bevölkerung des Gazastreifens angerichtet hat, ohne dass ein
Ende dieses furchtbaren Gemetzels abzusehen ist. Schrecklich war dieser
Jahreswechsel aber nicht nur für die Menschen im Gazastreifen. Er ist
auch schrecklich und beschämend für Israel, die ganze arabische
Welt, die Europäer und die US-Amerikaner, denn sie haben seit Jahren –
seit Jahrzehnten – keine ernsthaften Bemühungen unternommen, einen
dauernden Frieden zwischen den beiden Völkern im Nahen Osten zu
sichern.
Die Regierungen können sich nicht länger etwas vormachen. Die Wahrheit
ist, dass die sogenannten Friedenskonferenzen von Madrid über Oslo,
Camp David, Taba bis Annapolis zu nichts anderem geführt haben, als zu
immer gewalttätigeren Konfrontationen zwischen Juden und Arabern und
schließlich auch zwischen den Arabern selbst.
Angriff von langer Hand vorbereitet
Der jüngste Luftkrieg gegen den Gazastreifen ist ein von langer Hand
vorbereiteter Angriff, der nicht etwa eine spontane Reaktion auf die
Raketen der Hamas ist. Der Zeitpunkt ist genau kalkuliert: es ist nicht
das erste Mal, dass ein Krieg die Wahlchancen der härtesten
Kriegstreiber verbessern soll – und in Israel stehen Neuwahlen
unmittelbar bevor. In den USA ist der alte Präsident auf dem Rückzug
aus dem Amt, und der neue Präsident Obama ist noch nicht im Amt. Der
alte steht voll hinter dem israelischen Krieg, und der neue ist ganz
offensichtlich unentschlossen. Er vermeidet es, sein Wahlversprechen zu
bekräftigen, dem Völkerrecht wieder den ihm zukommenden Platz in der
US-Außenpolitik einzuräumen. Das ist kein gutes Zeichen für die
zukünftige Nah-Ost-Politik der Obama-Administration. Gerade jetzt ist
es notwendig, das israelische Militär von weiteren massiven
Völkerrechtsverstößen abzuhalten.
Kriegsverbrechen
Die Politik der letzten Jahre hat nie ein ernsthaftes Anzeichen für
einen wirklichen Friedenswillen erkennen lassen. Ja, sie ist kriminell,
wenn wir die Folgen der Luftangriffe sehen, die zu einem Massaker unter
der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen geführt haben. Sie
sind durch kein Recht auf Selbstverteidigung oder Notwehr legitimiert,
wie es Noch-Präsident Bush und Bundeskanzlerin Merkel behaupten. Das
sind eindeutige Kriegsverbrechen, eine vollkommen unverhältnismäßige
Reaktion auf die Raketen der Hamas. Der Gazastreifen ist mit 365 km²
kaum halb so groß wie Hamburg mit 755 km². Er hat aber mit 1,5
Millionen Menschen fast so viele Einwohner wie Hamburg mit 1,7
Millionen. Er ist das dichtestbesiedelte Land der Welt. Kein
Luftangriff kann die von dem Kriegsvölkerrecht geforderte
Unterscheidung zwischen geschützten Zivilisten und legitimen
Kampfgegnern gewährleisten. Der Vorwurf der israelischen Armee, die
Hamas-Kämpfer würden sich hinter den Zivilisten verstecken und diese
als Schilde missbrauchen, ist angesichts der Bevölkerungsdichte und der
Unmöglichkeit, sich durch Flucht den Angriffen zu entziehen, nur
zynisch. Es ist schon eine Verhöhnung des Rechts, wenn die Unzahl der
zivilen Toten und Verletzten, die Zerstörung der Wohnungen und zivilen
Einrichtungen mit Selbstverteidigung gerechtfertigt werden. Und es ist
eine zynische Haltung, gegen die Fortsetzung der Luftangriffe und die
Weigerung der israelischen Regierung, mit der Hamas über einen
Waffenstillstand zu sprechen, faktisch nichts zu unternehmen und statt
dessen die Leistung von medizinischer und humanitärer Hilfe zu fordern.
Sie wollen nicht abziehen
Die Sicherheit Israels wird durch diesen barbarischen Akt der
Bestrafung nicht gefördert, sondern weiter gefährdet. Er provoziert die
Radikalität des Gegners und heizt die Eskalation der Gewalt an. Vieles
spricht dafür, dass dies auch so gewollt ist, weil die politisch
Verantwortlichen in Israel den von ihnen in Friedensverhandlungen
geforderten Abzug aus den besetzten Gebieten nicht akzeptieren wollen.
Betrachten wir die Realität: Seit 1967 hält Israel das Westjordanland
und den Gazastreifen besetzt. Es hat zwar vor drei Jahren seine Truppen
und Siedler aus dem Gazastreifen zurückgezogen, hat aber die volle
Kontrolle über das kleine Territorium zu Wasser, in der Luft und zu
Land behalten. Seit dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 bestraft
Israel mit der Unterstützung der EU und der USA die Bevölkerung durch
eine unmenschliche Abriegelung und wirtschaftliche Blockade des
Gazastreifens. Die UNO spricht von einer „tiefen Krise der
Menschenwürde“, und Uri Avneri bezeichnet die Blockade als einen Akt
des Krieges, der das ganze Leben im Gazastreifen paralysiert hat:
„Diejenigen, die die Grenzübergänge geschlossen haben – unter welchem
Vorwand auch immer – wussten, dass es unter diesen Bedingungen keinen
wirklichen Waffenstillstand geben kann.“ Seit dem Beginn der
Blockade beklagt der UN-Menschenrechtsausschuss immer gravierendere
Verstöße der Abriegelungspolitik gegen die Menschenrechte. Das sind
schwerwiegende Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das haben im
Dezember vergangenen Jahres US-amerikanische Anwälte Ministerpräsident
Ehud Olmert zu Recht in einer Strafanzeige beim Internationalen
Strafgerichtshof in Den Haag vorgeworfen.
Recht der Besetzten auf Widerstand, kein Recht der Besatzer auf
Verteidigung
Wie jedes Volk unter rechtswidriger Besatzung haben auch die
Palästinenser ein Recht auf Widerstand. Für eine rechtswidrige
Besatzung gibt es aber kein Recht auf Verteidigung, sondern nur die
Verpflichtung, die Besatzung vollständig aufzuheben. Während der
letzten sieben Jahre sind 14 Israelis zumeist durch Raketen vom
Gazastreifen getötet worden. In der gleichen Zeit wurden mehr als 5000
Palästinenser mit Waffen getötet, die auch aus den modernsten Arsenalen
der US-Armee stammen. Und während keine Raketen vom Westjordanland aus
abgeschossen wurden, starben dort allein dieses Jahr 45 Palästinenser
von israelischer Hand. Das ist die Realität der Besatzung, in der jede
Art von Waffenstillstand nur dann einen Sinn hat, wenn die Besatzung
selbst verschwindet.
Auch die EU für den militärischen Exzess verantwortlich
Wer hingegen eine Politik der Strangulierung und Entwürdigung verfolgt,
darf sich nicht wundern, wenn aus der Verzweiflung und Ohnmacht der
Opfer Terrorakte entstehen, die die israelische Bevölkerung in der
Nachbarschaft des Gazastreifens treffen. Hamas hat das Ruhen der Waffen
angeboten. Die israelische Führung ist jedoch dazu nicht bereit. Es
nutzen daher auch keine abgewogenen Appelle an beide Seiten, die Waffen
ruhen zu lassen. Denn der Kern des Konfliktes liegt in der
Blockadepolitik, die das Ergebnis der freien und fairen Wahlen von 2006
nicht akzeptieren will. Diese unverantwortliche Politik haben auch die
Regierungen der EU und der USA, im Widerspruch zu ihren eigenen
Prinzipien, zu vertreten. Es ist eine Schande, dass sie diese Politik
immer noch nicht revidiert haben, sondern die Weigerung Israels zu
jeglichem politischen Kontakt mit Hamas auch noch unterstützen. Damit
sind auch sie für den militärischen Exzess der vergangenen Tage
verantwortlich.
Wir fordern daher:
Sofortiger Stopp der Luftangriffe auf den Gazastreifen.
Verhinderung der angekündigten Bodenoffensive.
Aufgabe der Blockade und Abriegelung des Gazastreifens.
Sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit Hamas, um den
Raketenbeschuss einzustellen.
Beendigung der israelischen Besatzung.
Nur eine politische Lösung auf dem Weg der Verhandlungen vermag für
beide Seiten die Sicherheit ihrer Existenz und einen dauerhaften
Frieden zu schaffen.