Sonderseite zu den Angriffen auf Gaza

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«Verletzungen des humanitären Völkerrechtes können Kriegsverbrechen sein»

von Navanethem Pillay, Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte*

Auszüge aus der Stellungnahme von Navanethem Pillay, gehalten an der Sondersitzung des Uno-Menschenrechtsrates in Genf am 9.1.09
Quelle: United Nations Information System on the Question of Palestine 

Übersetzung: Zeit-Fragen, 18. Januar 2009

[…] Die Situation ist unerträglich. Die Waffenruhe, welche der Uno-Sicherheitsrat forderte, muss sofort umgesetzt werden. Die Gewalt muss aufhören.
    Lassen sie mich unmissverständlich hervorheben, dass die internationale Menschenrechts-Gesetzgebung überall und immer gilt. Insbesondere soll das Recht auf Leben selbst im Verlaufe von Feindseligkeiten geschützt werden. Auch Kriegsteilnehmer müssen das Völkerrecht einhalten, das die Unantastbarkeit der Nicht-Kombattanten hochhält. […] Sowohl unter der internationalen Menschenrechts-Gesetzgebung als auch unter dem Humanitären Völkerrecht auferlegt die tatsächliche Kontrolle, die Israel über den Gaza-Streifen ausübt, Israel ausserdem die Verantwortung für das Wohlergehen der dortigen Zivilbevölkerung.

    Ich betonte, dass Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention Kollektivstrafen oder kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung verbietet. Ebenso verboten sind alle Einschüchterungs- oder Terrormassnahmen.

 Ausserdem möchte ich betonen, dass die drei Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts, nämlich Verhältnismässigkeit, Unterscheidung und Vorsicht im Rahmen dieses Konflikts voll zur Anwendung kommen müssen, wie sie das in jeder anderen Kriegssituation tun. Das erste Prinzip verbietet Angriffe, die zivile Verluste an Menschenleben oder verletzte Zivilisten erwarten lassen, die im Vergleich zu den erwarteten militärischen Vorteilen unverhältnismässig sind. Das zweite Prinzip auferlegt den Kriegführenden die Verpflichtung, zwischen Zivilisten und Kombattanten und zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden. Angriffe dürfen sich nur gegen Kombattanten und legitime militärische Ziele richten. Die letzte Norm verpflichtet Konfliktparteien alle möglichen Vorsichtsmassnahmen zu ergreifen um zufällige Verluste an Menschenleben, unter der Zivilbevölkerung, verwundete Zivilisten oder Schaden an zivilen Objekten zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. […]

    Ich schliesse mich dem Bedauern des Generalsekretärs über die völlig inakzeptablen Angriffe auf eindeutig gekennzeichnete Uno-Einrichtungen an, in denen Zivilisten Schutz suchten. Eine Vielzahl, darunter Kinder, wurden bei diesen Angriffen getötet oder verwundet. Wie der Generalsekretär feststellte, waren die Positionen aller Uno-Einrichtungen den israelischen Behörden mitgeteilt worden. Trotz dieses Wissens, missachtete Israel das Schutzbegehren der Uno. Die gestrigen Todesfälle und Verletzten unter den Uno-Mitarbeitern führte zur Entscheidung der Uno, ihre Hilfsoperationen im Gaza-Streifen auszusetzen. Wenn internationale Hilfskräfte gezwungen werden, ihre Dienste zurückzuziehen, um ihre Mitarbeiter zu schützen, erhöht das zweifellos die Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung. Ich möchte bei dieser Gelegenheit die aussergewöhnliche Arbeit würdigen, die Uno-Hilfskräfte und andere Kollegen bisher unter extrem schwierigen und gefährlichen Umständen verrichteten. […]

    Der Konflikt hat den Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten verschärft. Ungenügende medizinische Einrichtungen sowie das Unvermögen der belagerten Ärzte und des übrigen medizinischen Personals, die Opfer zu erreichen oder ausreichend zu versorgen, verschlimmern eine extrem schreckliche Situation. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat Israel beschuldigt, einerseits seinen Verpflichtungen, verwundeten Zivilisten an einem bestimmten Ort in Gaza Stadt zu helfen, nicht nachzukommen und andererseits das IKRK und den Palästinensischen Roten Halbmond daran zu hindern, den Verwundeten Hilfe zu leisten. Ausserdem hat die WHO berichtet, dass mehrere Sanitäter beim Versuch, ihre Pflichten zu erfüllen, getötet worden sind. […]

    Die Haftung für Verletzungen des Völkerrechts muss sichergestellt werden. In einem ersten Schritt müssen glaubwürdige, unabhängige und transparente Untersuchungen durchgeführt werden, um Verstösse zu ermitteln und Verantwortlichkeiten festzustellen. Genauso wichtig ist es, das Recht der Opfer auf Entschädigung einzuhalten. Ich erinnere diesen Rat daran, dass Verletzungen des Humanitären Völkerrechtes Kriegsverbrechen sein können, für die individuelle strafrechtliche Verantwortung angerufen werden kann.

Aus dem Humanitären Völkerrecht

Art. 51 Schutz der Zivilbevölkerung

1.    Die Zivilbevölkerung und einzelne Zivilpersonen geniessen allgemeinen Schutz vor den von Kriegshandlungen ausgehenden Gefahren. Um diesem Schutz Wirksamkeit zu verleihen, sind neben den sonstigen Regeln des anwendbaren Völkerrechts folgende Vorschriften unter allen Umständen zu beachten. […]
4.    Unterschiedslose Angriffe sind verboten. […]
5.    Unter anderem sind folgende Angriffsarten als unterschiedslos anzusehen:
a)    ein Angriff durch Bombardierung – gleichviel mit welchen Methoden oder Mitteln – bei dem mehrere deutlich voneinander getrennte militärische Einzelziele in einer Stadt, einem Dorf oder einem sonstigen Gebiet, in dem Zivilpersonen oder zivile Objekte ähnlich stark konzentriert sind, wie ein einziges militärisches Ziel behandelt werden, und
b)    ein Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.

I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte

Verbot der Verweigerung lebensnotwendiger Güter

Art. 54 Schutz der für die Zivilbevölkerung lebensnotwendigen Objekte
1.    Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegführung ist verboten.
2.    Es ist verboten, für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte wie Nahrungsmittel, zur Erzeugung von Nahrungsmitteln genutzte landwirtschaftliche Gebiete, Ernte- und Viehbestände, Trinkwasserversorgungsanlagen und -vorräte sowie Bewässerungsanlagen anzugreifen, zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen, um sie wegen ihrer Bedeutung für den Lebensunterhalt der Zivilbevölkerung oder der gegnerischen Partei vorzuenthalten, gleichviel ob Zivilpersonen ausgehungert oder zum Fortziehen veranlasst werden sollen oder ob andere Gründe massgebend sind.

I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte

Verbot der Kollektivstrafe

Art. 4 Grundlegende Garantien
2.    Unbeschadet der allgemeinen Gültigkeit der vorstehenden Bestimmungen sind und bleiben in Bezug auf die in Absatz 1 genannten Personen jederzeit und überall verboten:
b)    Kollektivstrafen

II. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte