Gespräch mit Helga Baumgarten*) über Hamas - Eine widersprüchliche
Partei in einem widersprüchlichen Konflikt
Gesprächsführung Armin Köhli, aufgezeichnet von Tobias Gasser Wochenzeitung WOZ (Schweiz), 23. November 2006
WOZ: Die Hamas steht militärisch und politisch unter starkem Druck
aus
dem In- und Ausland. Hält sie das durch? Gibt es die Hamas in zwei
Jahren noch?
Helga Baumgarten: Die Hamas wird noch jahrzehntelang eine
zentrale Rolle in Palästina und im Nahen Osten spielen. Die Hamas ist
heute ähnlich populär wie im Januar, als sie die Wahlen gewann.
Die Hamas war aber bisher faktisch unfähig zu regieren.
Die Bevölkerung hat der Hamas ein Mandat gegeben,
wirtschaftspolitische Reformen vorzunehmen wie die
Korruptionsbekämpfung und die Schaffung eines schlankeren
Regierungssektors. Weiter hat sie den Auftrag erhalten, eine konsequent
nationalistische Politik zu führen und sich nicht bei den
US-Amerikanern anzubiedern. Die Hamas hat auch klare politische
Forderungen wie den israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten.
Die Bevölkerung will der Hamas weiterhin die Chance geben, etwas von
diesem Regierungsprogramm durchzusetzen.
Nach den Angriffen in Beit Hanun vorletzte Woche, als die
israelische Armee fast eine ganze Grossfamilie auslöschte, hat die
Hamas den Waffenstillstand aufgekündigt. Ist das nur Rhetorik?
Ich würde es als Rhetorik interpretieren. Nach diesem
Vorfall war die gesamte palästinensische Bevölkerung in Aufruhr. Die
Strasse forderte Rache. Die verschiedenen Hamas-Führer haben diese
Forderungen von der Strasse aufgenommen. Interessanterweise haben sich
parallel dazu die Verhandlungen über eine Einheitsregierung zwischen
Hamas und Fatah verstärkt. Bei den Plänen für eine neue Regierung liegt
das Problem aber bei der Fatah. Sie wartet auf Anweisungen aus den USA.
Mit der republikanischen Wahlniederlage in den USA ist zudem die
gesamte US-Politik im Nahen Osten auf den Kopf gestellt worden.
Ist die palästinensische Seite realpolitisch clever genug, diese
Chance wahrzunehmen?
Die Hamas hat immer wieder Gesprächsbereitschaft gezeigt,
und sie ist immer vorsichtig gewesen bei der Polemik gegen die USA. Sie
war frustriert, dass die USA nicht auf Gesprächsangebote eingegangen
sind. Jetzt sieht man wieder eine Chance. Der bisherige Premierminister
Ismail Hanije bietet sogar an, zurückzutreten, damit wieder
internationale Hilfsgelder fliessen.
Mohammed Schbeir, der frühere Rektor der islamischen
Universität Gasa, könnte Ismail Hanije ablösen. Er wird der erste
Ministerpräsident sein, den Sie persönlich kennen. Wie vertraut sind
Sie mit der Hamas?
Als europäische Linke ist man nicht prädestiniert, mit
fundamentalistischen Organisationen Kontakt aufzunehmen. Ein Freund von
der International Crisis Group ICG bat mich, einen Bericht über die
Hamas zu schreiben. Ich habe dreimal leer geschluckt und den Bericht
geschrieben.
Wer hat Sie bei der Kontaktaufnahme zur Hamas unterstützt?
Dank eines ehemaligen Studenten, der bei einem arabischen
Satellitenfernsehsender als Korrespondent arbeitet, konnte ich im
Sommer 2003 die gesamte Hamas-Führung in Gasa-Stadt interviewen. Der
erste leibhaftige Geheimdienstmann, den ich via ICG kennenlernte, hat
mich zudem mit den Hamas-Vertretern im Ausland bekannt gemacht. Er
wurde später abgezogen - in einer Phase, als die Hamas
Gesprächsbereitschaft zeigte.
Ist die Hamas eine Kaderpartei oder eine demokratische Bewegung?
Ich spazierte heute in Zürich am Haus vorbei, wo Lenin
während seiner Zürcher Zeit gewohnt hatte. Viele sagen, dass die Hamas
Organisationsprinzipien von leninistischen Parteien übernommen habe -
aber dabei erfolgreicher sei: Die politische Basis und die Elite
arbeiten viel enger zusammen als in leninistisch-kommunistischen
Kaderparteien. Bis tief in die unteren Ränge lässt die Hamas-Führung
immer wieder verschiedene Politszenarien diskutieren. Bei den Wahlen
2004 hat sie mit einer Konsultation der Basis auch die Kandidaten
gesucht. Manchmal setzt sich das demokratische Prinzip gegen die
Führung durch, manchmal ist es aber auch umgekehrt. Es gibt wohl keine
andere arabische Partei, in der Entscheidungen so gefällt werden. Darum
haben wir manchmal zuerst widersprüchliche Stellungnahmen. Erst nach
einem Entscheid der Basis wird ein klarer Kurs gefahren.
Die Hamas vertritt einen politischen und konservativen Islam.
Die Hamas vertritt nicht eindeutig einen
konservativ-islamistischen Kurs. Kleidungsregeln hält man hoch. Der
Frau gibt man hingegen eine immer stärkere Rolle in der Gesellschaft.
Das ist in sich widersprüchlich.
Die Gesellschaft ist aber deutlich konservativer geworden.
Die Situation hat sich in Palästina und der gesamten
arabischen Welt stark verändert. Es ist eine konservative Entwicklung.
Der Islam wird identitätsstiftend. Ich kenne Mädchen, die setzen ein
Kopftuch auf, um ihre Identität gegen eine westliche Identität
durchzusetzen. Das hat mit der Hamas gar nichts zu tun.
Die Hamas steht aber für diese Regeln?
Die Hamas-Regierung sagt immer wieder dezidiert, dass sie
nicht für die gewaltsame Durchsetzung dieser Vorschriften steht. Sie
hat sich auch bemüht, so tolerant wie möglich zu sein. Man kann in
Ramallah Alkohol trinken. An der Bir-Seit-Universität können Frauen
alles anziehen: vom Minirock und engen Jeans bis hin zu Sackgewändern.
In Gasa hingegen, an der islamischen Universität, gibt es zwei
Universitätsgelände - eines für Studentinnen und ein anderes für
Studenten. Ein Kollege, ein Politologe, hat dort unter Druck auf seine
Stelle verzichtet, weil er nicht ans Freitagsgebet wollte.
Wird die Hamas Israel anerkennen?
Die Hamas-Führung wird Israel mit absoluter Sicherheit
anerkennen. Die Basis auf der Strasse wird dies aber ablehnen. Die
Hamas spricht im Moment von einem Waffenstillstand. Die nächste oder
übernächste Generation soll dann die immerwährende Lösung finden
können. Ismail Hanije hat sich in einem Interview provozieren lassen
und gesagt, wenn Israel einen palästinensischen Staat anerkenne, dann
anerkenne dieser Israel an. Die Führung macht Angebote, die für die
Basis sehr weit gehen. Das wird im Westen immer wieder übersehen.
Stimmt das Gerücht, dass Israel bei der Gründung der Hamas beteiligt
war?
Israel hat wohlwollend die Gründung der Muslimbrüder in den
palästinensischen Gebieten begleitet, die sich gegen den Nationalismus
wandten. Scheich Ahmed Jassin, der Gründer der Muslimbrüder in
Palästina, war auch Gründer der Hamas. Sie ist aber ganz unabhängig von
Israel gegründet worden. Zu Beginn ging Israel davon aus, dass es mit
der Hamas eher zu einer Einigung kommen würde als mit Jassir Arafat und
seiner PLO.
Gibt es Verbindungen zwischen al-Kaida und der Hamas?
Al-Kaida würde nichts lieber tun, als die Hamas zu
schlucken. Die Hamas hingegen sagt kategorisch Nein dazu. Die Hamas ist
eine religiös-nationalistische Organisation, die sich ausschliesslich
auf Palästina bezieht; sie ist mehr nationalistisch als religiös.
Al-Kaida hingegen kämpft aus dem Orient gegen den Westen auf einer
fundamentalistisch-islamistischen Basis.
Wie steht die Hamas zu den Selbstmordattentaten?
Die Hamas war 1994 die erste palästinensische Organisation,
die Selbstmordattentate in Israel einsetzte. Der Kontext war dieses
regelrechte Massaker eines israelischen Siedlers in der Moschee in
Hebron. Danach machte die Hamas das Angebot an Israel, Zivilisten aus
dem Konflikt auszuklammern. Dieses Angebot hat die israelische Führung
abgelehnt. Nach der Freilassung von Scheich Jassin 1997 aus
israelischer Gefangenschaft hat die Hamas die Selbstmordattentate
ausgesetzt. Zwischen 2001 und 2003 gab es eine neue Welle, als die
Hamas die schlimmsten Selbstmordattentate verübte. Ab 2003 hat sie die
Attentate mit zwei Ausnahmen wieder gestoppt. Die Organisation selber
hat eine kontroverse Haltung zu den Selbstmordattentaten. Die
offizielle Position ist: Wir wollen keine Zivilisten angreifen. Die
Attentate würden sich nur gegen Armeeziele richten. Andere
argumentieren, solange Israel palästinensische Zivilisten angreife,
habe man keine Alternative, als auch israelische Zivilisten
anzugreifen. Im Endeffekt hat die Hamas diese Terrorattentate einseitig
gestoppt. Nach Beit Hanun gibt es wieder Diskussionen,
Selbstmordattentate aufzunehmen. Wir können nur hoffen, dass sich diese
Haltung nicht durch setzt. Bei der politischen Führung ist man eher
dagegen. Die Hamas-Basis ist eher dafür.
*) Helga Baumgarten lebt in Ostjerusalem und lehrt Politologie an
der
palästinensischen Universität Bir Seit. Letzte Buchveröffentlichung:
"Hamas. Der politische Islam in Palästina", Diederichs: München, 2006