"Was bleibt noch von Palästina?"
Der Palästinenser Fathi Khdirat und der Israeli Jeff Halper im
Gespräch über die Mauer und den "Konvergenzplan" der israelischen
Regierung
Neues Deutschland, 23. November 2006
Am Wochenende 18./19. November 2006 fand in Berlin eine Konferenz
statt, die sich mit dem israelischen Mauerbau und dessen Folgen für die
palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten befasste. Am
Rande der Konferenz wurden zwei Interviews geführt, die wir im
Folgenden dokumentieren.
Wir widerstehen, um zu überleben"
Fathi Khdirat [1]: Die Hoffnung auf einen lebensfähigen Staat
schwindet
Sie kommen aus dem Westjordanland und haben geschildert, wie Israel
dort die Lebensgrundlagen der Palästinenser systematisch zerstört.
Hoffen Sie noch auf einen lebensfähigen palästinensischen Staat?
Die Hoffnung wird Schritt für Schritt zerstört. Schon im so genannten
Osloer Friedensprozess ging es nicht darum, wie man internationales
Recht umsetzen könnte, sondern um Absichtserklärungen. Israel, das
eindeutig alle Macht besitzt, musste diese mangels internationalem
Druck nicht einlösen. Gerade damals wurde deshalb der Siedlungsbau, der
gegen internationales Recht verstößt, rasant vorangetrieben. Die
palästinensische Seite setzte man in Camp David (II) mit einem
»Angebot« unter Druck, das endgültigem Verzicht auf alle Rechte
gleichkam und nicht angenommen werden konnte. Daraufhin hieß es, Israel
habe unter den Palästinensern »keinen Partner« für Verhandlungen.
Seither sind die Palästinenser der Gewalt des israelischen Militärs und
der Politik der einseitigen Schritte ausgesetzt. Die internationale
Gemeinschaft setzt sich nicht zu ihrem Schutz ein, im Gegenteil.
Wie beeinflusst das Verhalten der internationalen Gemeinschaft Ihrer
Meinung nach die Situation der Palästinenser?
Niemand hält Israel davon ab, die widerrechtliche Apartheidmauer zu
errichten Durch diese Barriere werden uralte Olivenhaine, von der
UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt, zerstört; Hunderttausende
Palästinenser werden von Israel und vom Rest des palästinensischen
Territoriums abgeschnitten; 120.000 Ostjerusalemer verlieren ihr
Wohnrecht, und große Teile des bisher landwirtschaftlich genutzten
Bodens gehen uns verloren. Angesichts der Karten mit den
Siedlerstraßen, die das Westjordanland durchschneiden, mit den
ummauerten Ghettos der Palästinenser dazwischen und mit den mächtigen
Siedlungsblocks, fragen wir uns: Was bleibt noch von Palästina, wie
soll da ein lebensfähiger Staat entstehen?
Geben Sie auf?
Auf der Konferenz in Berlin haben wir mit israelischen, europäischen
und deutschen Aktivisten diskutiert, was wir tun können, um der
Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Wir geben nicht auf. In der
ersten Intifada kämpften wir unter dem Motto, das für uns immer noch
gilt: »To exist is to resist.« Um weiterzuleben, müssen wir Widerstand
leisten. Wir haben keine andere Wahl. Wir glauben immer noch an
Gerechtigkeit und internationale Solidarität.
Der Preis ist aber sehr hoch ...
Ja, der gewaltlose Widerstand gegen die Apartheidmauer wird mit
Tränengas, aber auch mit gefährlicheren Gasen bekämpft, mit denen die
Armee experimentiert, teils wird scharf geschossen. Viele von uns, auch
Israelis und internationale Unterstützer, die mit uns demonstrieren,
wurden schon verletzt, manche schwer. Menschen, die Bulldozern
entgegentreten, um die Zerstörung ihrer Häuser zu verhindern,
riskieren, überrollt oder erschossen zu werden.
Sie sprachen in Berlin über die Palästinenser in Israel, die »48er
Palästinenser«. Sie selbst leben doch aber im Westjordanland?
Von dem Unrecht sind alle Palästinenser betroffen, auch wenn sie
aufgrund israelischer Maßnahmen unter unterschiedlichen Bedingungen und
getrennt voneinander leben müssen. Koloniale Herrschaft funktionierte
immer nach diesem Teilungsprinzip. Auch die Palästinenser, die
israelische Staatsbürger sind, leben unter rassistischen Gesetzen. Alle
Juden der Welt dürfen zurückkehren, nicht aber die Palästinenser. Bei
Landerwerb, Häuserbau und vielem mehr unterliegen sie Israels
Diskriminierungen.
Fragen: Sophia Deeg
[1] Fathi Khdirat ist Koordinator der Palästinensischen Kampagne gegen
die Apartheidmauer im Jordantal
"Wir sollten es Apartheid nennen"
Jeff Halper [2] über den Konvergenzplan des israelischen
Regierungschefs
Israels Ministerpräsident Ehud Olmert ist eigens nach Washington
gefahren, um seinen »Konvergenzplan« (Annäherungsplan) vor dem Kongress
vorzustellen ...
Ja, und er hat 18 Mal stehende Ovationen erhalten! Die Besatzung ist
keine rein israelischpalästinensische Angelegenheit. Die USA haben, wie
auch die EU, ein Interesse daran, dass Israel weiterhin hoch
technisierte Waffenkomponenten entwickelt und sie in den besetzten
Gebieten erprobt. In den USA selbst ist der militärisch-industrielle
Komplex die stärkste pro-israelische Lobby, weit vor jüdischen
Organisationen wie dem American Israel Public Affairs Committee (AIPAC
mit etwa 100 000 Mitgliedern eine einflussreiche Lobby-Organisationen
in den USA - d. Red.).
Sie sehen in Olmerts Plan keinen Fortschritt, obwohl die
Palästinenser eventuell mehr Land bekommen könnten als sie zur Zeit
haben?
Wie bei allen israelischen Vorschlägen ist das Ziel des Konvergenzplans
letztlich die Verhinderung eines lebensfähigen palästinensischen
Staates. Es geht Israel in erster Linie nicht darum, wie viel Land es
weiterhin besetzt, sondern darum, dass dieses Land der Kontrolle über
die Palästinenser dient. Das Westjordanland wird von israelischen
Korridoren durchzogen werden. Israel wird versuchen, den Plan als
Rückzug zu verkaufen. Wie gut das funktioniert, sehen wir in Gaza. Die
Welt glaubt das Märchen vom Rückzug, während Israel Gaza weiterhin
kontrolliert, aushungert und terrorisiert. In Israel wird, wenn es um
eine Lösung geht, schon seit Jahren nur noch über Lostrennung von den
Arabern gesprochen. Das Ergebnis ist Apartheid, ein Kontrollsystem auf
der Grundlage ethnischer und religiöser Kriterien. Ethnische Säuberung
als Option wird unter dem Titel »Transfer« in Israel offen diskutiert.
Sie wird nur deshalb nicht durchgeführt, weil Israel einen zu großen
Imageschaden befürchtet.
Und was hat das Ganze mit Konvergenz, also Annäherung, zu tun?
Die Annäherung besteht darin, dass die Lücke zwischen der optimalen
Lösung für Israel Vertreibung und der von den Palästinensern 1988
angenommenen Zweistaatenlösung überbrückt wird. Dazu werden die
Palästinenser aus ländlichen Gebieten, die Israel annektieren will, in
die Städte gedrängt, die die Kerne der palästinensischen Kantone bilden
werden.
Gibt es dafür einen Beweis?
Ja, den Verlauf der Mauer. Sie soll die Kantone definieren. Dass sie
eine politische Grenze ist, hat Außenministerin Zippi Livni zugegeben:
Die großen Siedlungsblöcke, das Jordantal und Jerusalem sollen Teile
Israels werden. Der Konvergenzplan von Ehud Olmert soll dazu führen,
dass diese Aufteilung international legitimiert wird. Israel versucht,
den Begriff »Zweistaatenlösung« zu kidnappen. Diese »Zweistaatenlösung«
ist ein riesiger Landdiebstahl.
Wenn Israel aber die Zweistaatenlösung »kidnappt«, wie Sie sagen:
Warum sollten die Palästinenser und die Solidaritätsbewegung dann noch
auf eine solche Lösung setzen?
Selbst die klassische Zweistaatenlösung ist keineswegs fair und
gerecht. Trotzdem hat die PLO 1988 zugestimmt. Nur Israel will ihr
nicht zustimmen. Die PLO ist die einzige Kraft, die noch an eine
Zweistaatenlösung glaubt. Eigentlich ist die Zeit der Zweistaatenlösung
vorbei, es sei denn, man akzeptiert die israelische Interpretation. Für
die Einstaatenlösung gibt es keine Lobby, da Israel der Umwandlung von
einem jüdischen in einen demokratischen Staat nicht zustimmen wird.
Wir sollten uns vor allem für eine Situation stark machen, in der die
Palästinenser überhaupt erst die Möglichkeit hätten, sich für eine der
Lösungen zu entscheiden.
Fragen: Paul Grasse
[2] Jeff Halper ist Koordinator des Israelischen Komitees gegen
Hauszerstörungen (ICAHD)